Warum Erinnerungen bei jedem Abruf neu entstehen: Was Neurowissenschaft und Psychologie über unser Gedächtnis verraten
🧠 Warum Erinnerungen bei jedem Abruf neu entstehen: Was Neurowissenschaft und Psychologie über unser Gedächtnis verraten
Einleitung
Erinnerungen erscheinen uns oft wie Dateien auf einem Computer: einmal abgespeichert, jederzeit abrufbar. Doch die Wissenschaft zeigt ein völlig anderes Bild. Jedes Mal wenn wir eine Erinnerung aufrufen, ist sie formbar – und kann sich unbemerkt verändern. Das bedeutet: Wir erinnern uns nicht an das ursprüngliche Ereignis, sondern an die letzte Version der Erinnerung. Ein faszinierender, aber auch irritierender Befund.
🔁 Erinnerungen entstehen jedes Mal neu – sie sind keine Aufzeichnung
Unser Gedächtnis funktioniert nicht wie eine Kamera, sondern wie ein Erzähler. Erinnerungen werden nicht „abgerufen“, sondern rekonstruiert – sie entstehen im Moment des Erinnerns neu (Bartlett, 1932). Dabei füllen wir automatisch Lücken auf Basis von Annahmen, Kontexten oder aktuellen Emotionen.
Studien mit bildgebender Hirnforschung zeigen: Beim Erinnern sind ähnliche Hirnregionen aktiv wie beim Imaginieren. Das Gehirn „erfindet“ gewissermaßen eine plausible Version der Vergangenheit (Schacter et al., 2000).
🧬 Der Prozess der Rekonsolidierung: Warum Erinnerungen instabil werden
In der Neurobiologie meint man mit Rekonsolidierung, dass wenn eine Erinnerung aktiviert wird, sie kurzfristig instabil wird – wie ein geöffnetes Dokument auf dem Computer. In dieser Phase ist sie veränderbar, bevor sie erneut „gespeichert“ wird (Nader et al., 2000). Neue Informationen, Erwartungen oder Emotionen können in diesem Moment eingearbeitet werden, bewusst oder unbewusst.
Neurowissenschaftliche Studien zeigen, selbst als stabil empfundene Erinnerungen werden bei jedem Abruf neu konstruiert. Aktiv werden dabei vor allem der Hippocampus, der Erinnerungsfragmente zu einem Ganzen zusammensetzt, und die Amygdala, die ihnen eine emotionale Färbung verleiht – besonders dann, wenn soziale oder gefühlsintensive Erlebnisse erinnert werden (Buchanan, 2007; Richter-Levin & Akirav, 2000).
Auch der Schlaf spielt eine wichtige Rolle: Erinnerungen werden nicht nur gefestigt, sondern auch neu sortiert, umgedeutet oder mit anderen Erfahrungen verknüpft. Einige Forschende sprechen sogar von einem „nächtlichen Editierprozess“ des autobiografischen Gedächtnisses (Stickgold & Walker, 2007; Diekelmann & Born, 2010).
Das alles erklärt, warum sich Zeugenaussagen verändern können, sich Geschichten im Lauf der Jahre wandeln oder warum unser Selbstbild aus Erinnerungen bestehen kann, die nie exakt so stattgefunden haben.
🎭 Emotionen färben Erinnerungen um
Emotionen spielen dabei eine zentrale Rolle: Sie verändern nicht nur, wie wir Ereignisse erleben, sondern auch, wie wir sie später erinnern. Wer heute traurig ist, erinnert sich eher an traurige Aspekte der Vergangenheit (Bower, 1981). Umgekehrt kann ein fröhlicher Zustand Erinnerungen heller erscheinen lassen. Dieses Phänomen nennt sich mood-congruent memory.
Zudem zeigen Experimente, dass neutrale Erinnerungen, wenn sie in emotionalen Kontexten erneut aufgerufen werden, umgedeutet werden können – beispielsweise als bedrohlicher, positiver oder bedeutungsvoller (Lane et al., 2015).
💡 Falsche Erinnerungen: Wenn das Gehirn lügt – aber überzeugt ist
Die Plastizität des Gedächtnisses macht es anfällig für sogenannte „False Memories“. Das sind vollständig erfundene Erinnerungen, die sich aber real anfühlen. In einem berühmten Experiment erinnerte sich ein Viertel der Teilnehmenden an eine fiktive Kindheitsgeschichte, weil diese ihnen überzeugend erzählt wurde (Loftus & Pickrell, 1995).
Das Gedächtnis ist kein Speichergerät, sondern ein kreativer Erzähler – überzeugt von seinen eigenen Geschichten, selbst wenn sie nicht der Wahrheit entsprechen.
🧘♂️ Was bedeutet das für unser Selbstbild?
Wenn Erinnerungen wandelbar sind, stellt sich eine tiefere Frage: Wie stabil ist unser Selbstbild? Schließlich beruhen viele unserer Überzeugungen über uns selbst, andere und das Leben auf Erinnerungen. Doch wenn diese Erfahrungen im Nachhinein verändert wurden, hat sich unser Selbstbild möglicherweise auf einer verzerrten Grundlage entwickelt.
Das ist aber kein Grund zur Sorge, sondern sogar eine Chance. Denn dieselbe Plastizität erlaubt auch bewusstes Umlernen und Umdeuten von Erinnerungen: In der Psychotherapie wird z. B. mit rekonstruktiven Techniken gearbeitet, um schmerzhafte Erinnerungen in einen neuen Kontext zu stellen (Lane et al., 2015).
📌 Fazit: Erinnern ist Veränderung
Jedes Mal, wenn wir uns erinnern, verändern wir unsere Erinnerungen. Unmerklich, aber nachhaltig. Das menschliche Gedächtnis ist kein Archiv, sondern ein aktiver Gestalter. Es passt Erinnerungen an unsere heutige Sichtweise an. So hilft es uns, emotionale Belastungen zu verarbeiten, unser Selbstbild zu stabilisieren und mit neuen Erfahrungen sinnvoll umzugehen. Das schützt uns, kann uns aber auch täuschen. Wer das weiß, kann Erinnerungen bewusster begegnen und offener mit sich selbst und anderen umgehen.
📚 Quellen
- Bartlett, F. C. (1932). Remembering: A Study in Experimental and Social Psychology. Cambridge University Press.
- Bower, G. H. (1981). Mood and memory. American Psychologist, 36(2), 129–148.
- Bridge, H. et al. (2022). Episodic memory retrieval reorganizes hippocampal functional connectivity. Nature Communications, 13, 5240.
- Lane, R. D., Ryan, L., Nadel, L., & Greenberg, L. (2015). Memory reconsolidation, emotional arousal, and the process of change in psychotherapy: New insights from brain science. Behavioral and Brain Sciences, 38.
- Loftus, E. F., & Pickrell, J. E. (1995). The formation of false memories. Psychiatric Annals, 25(12), 720–725.
- Nader, K., Schafe, G. E., & LeDoux, J. E. (2000). Fear memories require protein synthesis in the amygdala for reconsolidation after retrieval. Nature, 406(6797), 722–726.
- Schacter, D. L., Reiman, E., Uecker, A., Polster, M., Yun, L. S., & Cooper, L. (1995). Brain regions associated with retrieval of structurally coherent sentences. Nature, 376, 587–590.
- Richter-Levin, G., & Akirav, I. (2000). Amygdala-hippocampus dynamic interaction in relation to memory. Molecular Neurobiology, 22(1–3), 11–20.
- Buchanan, T. W. (2007). Retrieval of emotional memories. Psychological Bulletin, 133(5), 761–779.
- Diekelmann, S., & Born, J. (2010). The memory function of sleep. Nature Reviews Neuroscience, 11(2), 114–126.
- Stickgold, R., & Walker, M. P. (2007). Sleep-dependent memory consolidation and reconsolidation. Science, 316(5829), 1842–1845.
- Schacter, D.L., Norman, K.A., & Koutstaal, W. (1998/2000). The cognitive neuroscience of constructive memory. Annual Review of Psychology, 49, 289–318.
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