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Egalitäre Gesellschaften – ein Zusammenleben ohne Herrschaft

Egalitäre Gesellschaften – ein Zusammenleben ohne Herrschaft

Mehrere indigene Personen sitzen um ein Lagerfeuer. Alle lächeln und teilen ihr Essen miteinander.

📌 Kurz & Klar: Egalitäre Gesellschaften
  • Über Jahrtausende lebten Menschen ohne Staat, Könige oder Polizei – in egalitären, herrschaftsfreien Gemeinschaften.
  • Ihre Ordnung beruhte auf Teilen, Konsensentscheidungen, sozialer Kontrolle und Mechanismen, die Macht begrenzen.
  • Beispiele sind die San (Afrika), Nuer (Südsudan), Mbuti (Kongo) oder die Irokesen-Liga (Nordamerika).
  • Grenzen: informelle Hierarchien, größere Gruppengrößen und kulturelle Abhängigkeit.
  • Forschung zeigt: Herrschaft ist nicht alternativlos – egalitäre Prinzipien können auch heute inspirieren

Einleitung

Egalitäre, also herrschaftslose Gesellschaften, oft auch Anarchie oder „staatenlos“ bezeichnet, gelten vielen als utopisch oder instabil.
Doch anthropologische Forschung zeigt, dass Menschen über Jahrtausende ohne Könige, Parlamente oder Polizei lebten und dennoch mit Ordnung, sozialen Regeln und funktionierender Zusammenarbeit. Diese Gemeinschaften sind nicht bloß ein Relikt der Vergangenheit, sondern bieten spannende Einsichten für unsere Gegenwart.

1. Was sind egalitäre Gesellschaften?

Sie sind soziale Gemeinschaften ohne dauerhafte, zentralisierte Machtinstanz.
Es gibt keinen Apparat, der Gesetze erlässt und mit Gewalt durchsetzt. Die Mitglieder gelten als politisch und sozial weitgehend gleichgestellt. Entscheidungen entstehen durch Konsens, Beratung und geteilte Verantwortung.

Der französische Ethnologe Pierre Clastres betonte, dass solche Gruppen nicht einfach „noch keinen Staat“ haben, sondern aktiv Mechanismen entwickelten, um Machtkonzentration zu verhindern [2] .

Auch der US-Anthropologe David Graeber wies zusammen mit dem Archäologen David Wengrow darauf hin, dass herrschaftsfreie Organisation über Jahrtausende eher die historische Normalität als die Ausnahme war. Sie argumentierten, dass die Vielfalt menschlicher Gesellschaftsformen zeige, wie oft Menschen sich bewusst gegen dauerhafte Herrschaft entschieden haben. Zudem konnten sie zeigen, dass manche Gesellschaften sogar bewusst zwischen hierarchischen und egalitären Formen wechselten [5] .

In einigen indigenen Völkern Nordamerikas zum Beispiel lebten die Menschen im Winter in kleinen, egalitären Jagdgruppen, in denen Konsensentscheidungen und geteilte Verantwortung dominierten. Im Sommer trafen sich hunderte oder tausende in großen Versammlungen mit ritueller Hierarchie oder sogar temporären Häuptlingen, etwa um Feste, Handel oder Zeremonien zu koordinieren.Mit dem Ende der Saison lösten sich diese Hierarchien wieder auf, niemand konnte dauerhafte Macht über die Gemeinschaft behalten [5] .

2. Eigenschaften und Funktionsweise

Typische Merkmale egalitärer Gemeinschaften sind:

  • Keine dauerhaften Hierarchien: Einfluss kann durch Fähigkeiten, Erfahrung oder Ansehen entstehen, bleibt aber immer temporär und durch die Gemeinschaft kontrolliert [6], [1], [5] .
  • Teilen statt Horten: Überschüsse werden verteilt, um Ungleichheit zu vermeiden [6], [5] .
  • Soziale Kontrolle: Normverletzungen werden durch Kritik, Spott oder Ausschluss sanktioniert, nicht durch Polizei [1], [5] .
  • „Leveling-Mechanismen“: Rituale, Humor oder verbindliche Teilungsregeln verhindern, dass Einzelne ihre Stellung in dauerhafte Autorität oder Macht umwandeln [6], [5] .

Der Anthropologe Christopher Boehm spricht hier von einer „umgekehrten Dominanzhierarchie“: Die Gemeinschaft kontrolliert die Mächtigen, nicht umgekehrt [1] .

3. Beispiele aus der Anthropologie

San (Kalahari, Afrika):
Bei den San, einer halbnomadischen Jäger- und Sammlergruppe, gehört das Teilen der Beute zu den wichtigsten sozialen Normen. Wer erfolgreich jagt, darf daraus keinen dauerhaften Status ableiten. Mit Spott und abwertenden Kommentaren über das erlegte Tier – bekannt als „Insulting the meat“ – wird jeder Versuch, Prestige zu beanspruchen, sofort neutralisiert [6], [1], [5] .

Nuer (Südsudan):
Die politische Ordnung der Nuer beruht auf einem segmentären Verwandtschaftssystem. In Konflikten treten sogenannte Leopardenfell-Häuptlinge als Vermittler auf, die zwar moralische Autorität besitzen, aber niemandem Befehle erteilen können. Entscheidungen entstehen in Verhandlungen und Allianzen, nicht durch zentrale Herrschaft [3], [5] .

Mbuti (Ituri-Wald, DR Kongo):
Alltag und Konfliktbewältigung bei den Mbuti sind geprägt von öffentlichen Diskussionen, oft begleitet durch Humor und Musik. In solchen Prozessen wird Streit geschlichtet, ohne dass jemand dauerhaft über andere verfügt. Anthropologische Studien beschreiben diese Waldgemeinschaften als auf Kooperation und Ausgleich ausgerichtet [5] .

Irokesen-Liga (Nordamerika):
Die Haudenosaunee (Irokesen) organisierten sich in einer Föderation mehrerer Stämme, die rätedemokratisch Entscheidungen traf. Häuptlinge fungierten als Sprecher und Berater, konnten aber jederzeit von den Clanmüttern abgesetzt werden. Damit verband sich politische Stabilität mit einem System, das Macht dauerhaft begrenzte [5] .

4. Mögliche Grenzen egalitärer Systeme

  • Informelle Hierarchien: Auch ohne formale Ämter können Machtgefälle durch Geschlecht, Alter oder persönliche Fähigkeiten entstehen. Studien zeigen, dass solche Dominanzversuche zwar häufig sind, in egalitären Gesellschaften jedoch kollektiv sanktioniert und wieder eingeebnet werden [1], [5] .
  • Skalierbarkeit: Konsensfindung funktioniert am zuverlässigsten in kleinen bis mittelgroßen Gruppen, wo jeder jeden kennt. In großen Gemeinschaften steigt das Risiko informeller Eliten. Trotzdem zeigen archäologische Beispiele wie die Indus-Kultur oder die Irokesen-Liga, dass egalitäre Strukturen durchaus im größeren Maßstab bestehen können [6], [1], [5] .
  • Kulturelle Abhängigkeit: Gleichheit muss aktiv gepflegt werden. Mechanismen wie Teilen, Spott oder Konsensverfahren verhindern, dass Einzelne ihre Stellung in dauerhafte Macht verwandeln. Lässt dieser kulturelle Konsens nach, können sich rasch neue Hierarchien bilden [2], [6], [1], [4] .

5. Warum es sich lohnt, darüber zu sprechen

Egalitäre Gesellschaften widerlegen die verbreitete Annahme, dass stabile Ordnung nur mit zentraler Herrschaft möglich ist. Sie zeigen, dass Machtkonzentration vermeidbar ist – durch Transparenz, Teilhabe und gemeinsame Verantwortung [1], [2], [6] .
David Graeber betonte, dass solche Beispiele unsere politische Vorstellungskraft erweitern können. Wenn Gemeinschaften über Jahrtausende ohne Staat, Polizei oder Bürokratie funktionierten, liegt darin ein Beweis, dass gesellschaftliche Organisation nicht auf ein einziges Modell festgelegt sein muss [4], [5] .
Das Wissen um diese Vielfalt kann uns helfen, neue demokratische Ansätze zu entwickeln, die weniger hierarchisch, dafür inklusiver und flexibler sind [5] .
Auch für heutige Gesellschaften gibt es direkte Anknüpfungspunkte, von basisdemokratischen Bürgerforen über selbstverwaltete Nachbarschaftsprojekte bis hin zu dezentralen Netzwerken im digitalen Raum [4], [5] .

Graeber wies darauf hin, dass Formen gegenseitiger Hilfe und solidarischer Kooperation, etwa in Alltagspraktiken, sozialen Bewegungen oder autonomen Zentren, bereits heute präsent sind und als „Kommunismus im Kleinen“ unser Zusammenleben prägen [4] .

In Zusammenarbeit mit Wengrow zeigte er zudem, dass menschliche Gemeinschaften historisch immer wieder verschiedene Modelle ausprobierten und damit belegen, dass auch komplexe Gesellschaften nach egalitären Prinzipien organisiert werden können. Diese Erkenntnisse regen an, partizipative Demokratieformen wie Klimabürgerräte, lokale Versammlungen oder digitale Commons ernster zu nehmen und als realistische Alternativen zu verstehen [5] .

Herrschaftslose Prinzipien können Machtmissbrauch begrenzen, kollektive Verantwortung fördern und uns daran erinnern, dass Gleichheit keine Utopie, sondern eine gelebte Praxis sein kann [1], [2], [5] .

Fazit

Wie in der Einleitung erwähnt, galten egalitäre Gemeinschaften lange als utopisch oder instabil. Doch sie sind keine exotische Ausnahme, sondern ein fester Bestandteil der Menschheitsgeschichte. Ihre Geschichte ist sogar wesentlich länger und in vielen Fällen stabiler, als die aller Gesellschaften, die durch Staaten organisiert waren [5] .

Sie zeigen, dass Stabilität und Zusammenhalt nicht zwingend von Königen, Bürokratien oder Polizei abhängen, sondern von Kooperation, Solidarität und der aktiven Begrenzung von Macht. Zahlreiche ethnologische Beispiele belegen, dass Gleichheit kein unerreichbares Ideal, sondern eine praktisch erprobte Form des Zusammenlebens ist.

Für uns heute bedeutet das: Wer ihre Prinzipien versteht, kann neue Wege für gerechtere, inklusivere und partizipativere Gesellschaften entwickeln – ob in kleinen Gemeinschaften, in Bürgerforen oder sogar in global vernetzten Strukturen. Möglicherweise liegt die wichtigste Lehre darin, dass gesellschaftliche Ordnung nicht alternativlos ist, sondern dass Menschen immer wieder bewusst entschieden haben, wie sie leben wollen.

Welche Prinzipien würden wir heute wählen, wenn wir unsere Gesellschaft neu gestalten könnten?

Quellen

  1. Boehm, C. (1993). Egalitarian Behavior and Reverse Dominance Hierarchy. Current Anthropology, 34(3), 227–254. [DOI]
  2. Clastres, P. (1974). La Société contre l’État. Paris: Minuit.
  3. Evans-Pritchard, E. E. (1940). The Nuer. Oxford: Clarendon Press.
  4. Graeber, D. (2004). Fragments of an Anarchist Anthropology. Chicago: Prickly Paradigm Press.
  5. Graeber, D. & Wengrow, D. (2021). The Dawn of Everything. London: Allen Lane.
  6. Woodburn, J. (1982). Egalitarian Societies. Man, 17(3), 431–451. [DOI]
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