Direkt zum Hauptbereich

„Die Luft der Gleichheit“ – Die Geschichte des spanischen Anarchismus

„Die Luft der Gleichheit“ – Die Geschichte des spanischen Anarchismus


📌 Kurz & Klar:
  • Die anarchistische Bewegung hatte ihren Anfang in den 1860er Jahren
  • 1936 entstand in Teilen Spaniens eine echte Alternative: Betriebe in Arbeiterhand, landwirtschaftliche Kollektive, gewählte Komitees, Milizen mit gewählten Offizieren.
  • Zwei Stränge prägten die Bewegung: Anarchosyndikalismus (Gewerkschaften als Träger der Produktion) und Anarchokommunismus (Bedarfsdeckung, teils ohne Geld).
  • Krieg & Gegenkräfte (Nichtintervention westlicher Staaten, Achsenhilfe für Franco, stalinistische Politik) schnürten den Spielraum der Revolution immer stärker ein.
  • Stärken: gelebte Gleichheit, lokale Selbstverwaltung, Solidarität. Schwächen: uneinheitliche Koordination, Spannungen zwischen Prinzipientreue und Kriegslogik, blinde Flecken bei Geschlechterrollen.

Einleitung

Ende 1936 landete George Orwell in Barcelona und schloss sich einer Miliz an. Rückblickend schrieb er 1938 in seinem Werk „Mein Katalonien“: „Man hatte die Luft der Gleichheit eingeatmet“ [4]. Für kurze Zeit verschwand die sichtbare Hierarchie zwischen Klassen, Rangabzeichen und Einkommen. In den Milizen und Betrieben aß man gleich, sprach gleich, lebte gleich. Der Zeitzeuge Augustin Souchy beschrieb die sozialen Kollektivierungen in Spanien als das wohl bedeutendste soziale Experiment des 20. Jahrhunderts. Jedenfalls war es das bisher wohl umfassendste Experiment des modernen Anarchismus.

Doch wie war das möglich? Spanien war damals ein tief gespaltenes Land. Großgrundbesitz, Armut und Analphabetismus auf dem Land, ein kämpferisches Industrieproletariat in Städten wie Barcelona. Dazu eine Republik, die Reformen versprach, aber an Widerständen scheiterte [2]. In diesem Spannungsfeld wuchs über Jahrzehnte eine eigenständige anarchistische Bewegung heran. Ihre Träger waren Gewerkschaften wie die CNT und libertäre Zusammenschlüsse wie die FAI [6][7].

Dieser Artikel erzählt nicht nur die Geschichte, sondern möchte auch die Funktionsweise beleuchten. Dabei gehe ich chronologisch vor – Ursprung, Aufstieg, Revolution, die Zeit danach – und stelle am Ende eigene Überlegungen an: Warum fällt es uns heute so schwer, uns eine Gesellschaft ohne Staat vorzustellen? Könnte sowas auch heute funktionieren? Und hätte dieses System ohne den Krieg überhaupt stabil bestehen können oder war es gerade der Krieg, der die nötige Energie und Einheit erzeugte?

1. Ursprung des spanischen Anarchismus

Der moderne Anarchismus entstand im 19. Jahrhundert in Europa als radikale Kritik an Staat, Kirche und Kapital. Begründet wurde er von Denkern wie Proudhon, Bakunin und Kropotkin sowie von der Arbeiterbewegung der Ersten Internationale (Internationale Arbeiterassoziation, 1864–1876). Die Grundidee: Gesellschaft soll sich freiwillig, föderal und von unten organisieren, ohne Herrschaftsmonopol des Staates [9].

In Spanien erwuchs der Anarchismus aus einer Mischung von Landarmut, antiautoritären Ideen und bäuerlichem Widerstand. 1868 brachte Giuseppe Fanelli, ein Anhänger Bakunins, die Gedanken der Internationalen Arbeiterassoziation nach Spanien [5].

  • In Andalusien fanden sie Resonanz unter Landarbeitern, die von Armut und Analphabetismus geprägt waren.
  • In Katalonien verbanden sie sich mit einer aufstrebenden Arbeiterschaft der Textilindustrie.
  • So entstand eine spezifisch spanische Prägung: anarchistische Ideen verschmolzen mit bäuerlicher Tradition, religiöser Skepsis und regionalem Föderalismus [5].

Früh bildeten sich Sektionen der Internationalen (örtliche/regionale Gruppen der Internationalen Arbeiterassoziation), gewerkschaftliche Verbände und Kulturvereine, die Streiks, Bildung und Selbsthilfe organisierten [5].

2. Aufstieg bis zum Bürgerkrieg

CNT und FAI
1910 entstand die Confederación Nacional del Trabajo (CNT), die sich zur größten anarcho-syndikalistischen Gewerkschaft Europas entwickelte [6]. 1927 gründete sich die Federación Anarquista Ibérica (FAI) als Föderation anarchistischer Gruppen – keine Gewerkschaft, sondern ein bündelnder Zusammenschluss, der innerhalb und neben der CNT auf einer konsequent revolutionären Ausrichtung bestand und Pragmatismus oder Reformismus Grenzen setzen wollte [7].

Zweite Republik (1931–1936)
Die Zweite Republik entstand 1931 nach dem Sturz der Monarchie: König Alfons XIII. verlor nach Jahren der Militärdiktatur von Primo de Rivera und einer schweren Wirtschaftskrise den Rückhalt. Republikaner siegten in den Kommunalwahlen, der König ging ins Exil und am 14. April 1931 wurde die Republik ausgerufen [8]. Die Menschen hatten Hoffnung auf Reformen, wurden aber enttäuscht. Versuche zur Agrarreform stießen auf Widerstand der Großgrundbesitzer. [2]. Streiks, Aufstände und besonders die blutig niedergeschlagene Asturische Revolution 1934 bereiteten den Boden für die Revolution von 1936 [2].

3. Die libertäre Revolution (1936–1939)

Aufstand und Gegenwehr
Am 17. Juli 1936 begann in Spanisch-Marokko der Militärputsch, der sich am 18. Juli auf das spanische Festland ausweitete. Angeführt wurde er von einer Gruppe hoher Generäle. Bald setzte sich Francisco Franco als zentrale Führungsfigur durch [8]. In vielen Regionen siegte das Militär, doch in Barcelona, Valencia, Madrid und großen Teilen Aragoniens wurden sie von bewaffneten Arbeitern und Milizen niedergeschlagen. Vor allem die Milizen der CNT und FAI organisierten spontan den Widerstand - mit improvisierten Waffen, Barrikaden und unter basisdemokratischer Führung. Kommandanten wurden gewählt, Rangabzeichen abgeschafft, Sold und Rationen gleichgestellt [2][4].

Machtübernahme von unten
Nach dem Sieg der republikanischen Kräfte und Arbeiterorganisationen über den Militärputsch in Katalonien und Aragon war die Staatsmacht praktisch handlungsunfähig. In das entstandene Machtvakuum traten Arbeiter- und Dorfkomitees, die sich selbst organisierten und die öffentliche Ordnung sowie die Versorgung regelten. Fabriken, Werkstätten und Transportunternehmen gingen in die kollektive Verantwortung der Belegschaften über. Auf dem Land gründeten die Dörfer landwirtschaftliche Kollektive. Sie führten Familienlöhne ein und setzten mancherorts Geld ganz außer Kraft. Private Händler verschwanden. An ihre Stelle traten Gemeindeläden, in denen Gutscheinsysteme oder bedarfsorientierte Verteilung die Versorgung regelten [1][3].

Im europäischen Vergleich war das außergewöhnlich: Während in Russland 1917 die bolschewistische Partei die Macht zentralisierte, in Italien die Fabrikräte von Turin rasch unterdrückt wurden und in Frankreich syndikalistische Impulse meist auf Streiks beschränkt blieben, gelang es in Spanien, Millionen Menschen über längere Zeit kollektiv zu organisieren [5][9].

Koordination und Föderationen
Damit Versorgung und Produktion nicht isoliert blieben, schlossen sich die Kollektive regional zusammen. Ein Höhepunkt war der Kongress von Caspe 1937, auf dem Vertreter aus Aragon einheitliche Regeln für Landwirtschaft, Transport und Austausch festlegten [3]. Im Umfeld des Kongresses und in den Delegiertenberichten wurde deutlich, dass die ländliche Praxis stark anarcho-kommunistisch geprägt war, wohingegen die städtischen Sektoren syndikalistisch organisiert blieben [1][9].

Frauen und Kultur
Parallel entstand eine eigenständige Frauenbewegung. Mujeres Libres setzte auf Bildung und konkrete Vermittlung von Arbeit. Ihr Ziel war nicht nur Teilnahme, sondern wirkliche Gleichstellung [3]. Gleichzeitig wurde massiv in Bildung und Kultur investiert. Alphabetisierungskampagnen, Schulen und Kulturvereine (ateneos) sollten die alte soziale Ungleichheit überwinden [1][3]. Tausende Frauen schlossen sich auch den Milizen an, kämpften an der Front und übernahmen erstmals öffentlich Aufgaben, die zuvor Männern vorbehalten waren. Dennoch blieb Gleichberechtigung oft unvollständig. In vielen Kollektiven dominierten weiterhin männliche Sprecher, und traditionelle Rollenmuster wirkten nach [1][3][9].

Innere Konflikte
Während die Zweite Republik formal weiterbestand, waren ihre Institutionen in Katalonien und Aragon nach Juli 1936 weitgehend machtlos. Innerhalb der CNT gab es Streit über den Kurs, sollte man konsequent die Macht übernehmen oder mit Sozialisten und Republikanern in einer Volksfront zusammenarbeiten? [2] Viele Anarchisten traten sogar in die Regierung ein – ein Schritt, der den eigenen Prinzipien widersprach. Gleichzeitig kam es zu Konflikten mit den Kommunisten, die eine zentralisierte Volksarmee forderten und die Kollektive teils offen bekämpften. Die Mai-Ereignisse 1937 in Barcelona, blutige Kämpfe zwischen Kommunisten, Anarchisten und dem POUM (marxistische, trotzkistisch beeinflusste Arbeiterpartei), – bedeuteten einen Wendepunkt und offenbarten die tiefe Spaltung im republikanischen Lager [2][4].

Äußere Bedrohung
Hinzu kam der Druck von außen. Deutschland und Italien unterstützten Franco mit Waffen und Truppen, während Großbritannien und Frankreich an ihrer Politik der „Nichtintervention“ festhielten. Die Republik war so zunehmend von sowjetischen Waffen abhängig, wodurch die Kommunisten zunehmend an Einfluss gewannen [2][8].

Vom Aufbruch zum Niedergang
So standen die anarchistischen Errungenschaften bald doppelt unter Druck: von den Faschisten an der Front und von Konflikten innerhalb des republikanischen Lagers. Mit der schrittweisen Militarisierung der Milizen und der Rücknahme vieler Kollektivierungen 1937/38 verlor die Revolution ihre ursprüngliche Dynamik. Als Franco 1939 endgültig siegte, war der Traum einer libertären Gesellschaft zerschlagen [2].

📌Infokasten: Anarcho-Syndikalismus und Anarcho-Kommunismus

Anarcho-Syndikalismus

  • Ideengeber & Übertragung: Geprägt durch Bakunin. Nach Spanien kamen die Ideen durch Giuseppe Fanelli (Anhänger Bakunins) [5][9].
  • Dominanzgebiet: Vor allem in den städtischen Industriezentren Kataloniens (Barcelona, Textil, Metall, Transport) [5][6].
  • Ziele: Kontrolle der Produktion durch Gewerkschaften; Föderation von Betrieben und Branchen; Emanzipation der Arbeiterklasse durch Arbeitermacht [6][9].
  • Organisation & Funktionsweise:
    • Vollversammlungen im Betrieb als höchste Instanz; gewählte, abwählbare Delegierte mit engem Mandat [1][6].
    • Zusammenschluss in Branchenföderationen (z. B. Transport, Textil); Preise/Logistik über Komitees [1][2].
    • Löhne teils egalisiert, Geldsystem bleibt bestehen (betrieblich koordiniert) [1][2].
    • Maschinen, Werkstätten und Lagerbestände wurden von den Belegschaften gemeinsam verwaltet und über Komitees verteilt [1][2][6].
  • Besonderheit: Betonung der Arbeitsorganisation – die Revolution sollte aus der Gewerkschaft heraus erwachsen.

Anarcho-Kommunismus

  • Ideengeber & Übertragung: Hauptvordenker war Peter Kropotkin (Die Eroberung des Brotes, 1892). In Spanien prägte besonders Isaac Puente diese Richtung [9].
  • Dominanzgebiet: Vor allem in den ländlichen Regionen Aragoniens, des Levante (Valencia) und im ländlichen Katalonien; umgesetzt im Caspe-Kongress 1937 [3].
  • Ziele: Aufbau einer Bedarfswirtschaft ohne Geld; Verteilung nach Bedürfnissen statt nach Arbeitsleistung; Überwindung von Markt und Privateigentum [1][9].
  • Organisation & Funktionsweise:
    • Dorfversammlungen trafen Grundsatzentscheidungen; Kollektivkomitees setzten sie um (Arbeit, Versorgung, Bildung, Gesundheit) [1][3].
    • Familienlohn oder Gutscheinsysteme ersetzten Löhne; in manchen Dörfern wurde Geld ganz abgeschafft [1][3].
    • Gemeinsame Nutzung von Land, Werkzeugen und Vorräten durch die Dorfgemeinschaft; einzelne Bauern konnten sich entziehen, mussten aber zu Gemeindepreisen liefern/kaufen [1][3][9]
    • Überregionale Föderationen der Kollektive (z. B. in Aragon) koordinierten Saatgut, Transport und Austausch [3].
  • Besonderheit: Fokus auf soziale Gleichheit und Bedürfnisorientierung – nicht der Betrieb, sondern die Gemeinde stand im Zentrum.

Zentrale Unterschiede

  • Grundlage:
    • Syndikalismus: Arbeit & Gewerkschaft.
    • Kommunismus: Dorf & Gemeinde.
  • Wirtschaftsform:
    • Syndikalismus: Löhne (meist egalisiert), Geld blieb.
    • Kommunismus: Gutscheine/Familienlohn, teils Geldabschaffung.
  • Struktur:
    • Syndikalismus: Betriebe → Branchen → Föderation.
    • Kommunismus: Dorf → Kollektivkomitee → Föderation.
  • Dominanz:
    • Syndikalistisch geprägt in Städten.
    • Kommunistisch geprägt auf dem Land.

4. Niederlage und Repression

Repression unter Franco
1939 siegte Francisco Franco. Die Kollektive wurden aufgelöst, Betriebe und Land an frühere Eigentümer oder das Regime überführt, Gewerkschaften wie die CNT verboten und ihre Infrastruktur beschlagnahmt. Es folgten Erschießungen, Massenprozesse und langjährige Haftstrafen in überfüllten Gefängnissen und Lagern. Schätzungen sprechen von bis zu 200.000 Opfern der Repression in den Kriegs- und Nachkriegsjahren [2]. Das Regime setzte auf „Säuberungen“ in Verwaltung, Schulen und Betrieben, errichtete ein dichtes Netz aus Sondergerichten und benutzte Zwangsarbeit für Wiederaufbauprojekte. Politische Aktivitäten außerhalb der Einheitsorganisationen des Regimes waren verboten [2][8].

Exil, Widerstand und langes Schweigen
Zehntausende flohen 1939 nach Frankreich, viele kamen in Internierungslager. Ein Teil schloss sich der Résistance an oder kämpfte später als spanische Maquis gegen das Franco-Regime. Größere Vorstöße (etwa 1944) blieben allerdings erfolglos [8]. In Spanien selbst hielten sich anarchistische Strukturen nur noch konspirativ und waren ständig bedroht durch Polizei und Geheimdienste [2][5]. Öffentliches Gedenken an die „libertäre Revolution“ war über Jahrzehnte unterdrückt. Erst nach dem Ende der Diktatur 1975 wurde ihre Geschichte schrittweise wieder aufgearbeitet [5][8].

5. Nachwirkungen und Erinnerung

Wiedergründung nach 1975
Mit dem Ende der Diktatur wurde die CNT wieder legalisiert. Sie spielte in den Arbeiterkämpfen der späten 1970er Jahre eine Rolle, zerbrach aber bald an inneren Konflikten: Der Streit um Beteiligung an Betriebsräten führte zur Abspaltung der CGT (Confederación General del Trabajo), die bis heute deutlich größer ist als die CNT [5][8].

Gegenwart
Heute sind CNT und CGT weiterhin aktiv, auch wenn sie im Vergleich zu den 1930ern nur kleine Minderheiten innerhalb der spanischen Gewerkschaftslandschaft darstellen. Die CGT hat mehrere Zehntausend Mitglieder, ist in Bereichen wie Bahn, Telekommunikation und Dienstleistungen vertreten und fällt durch Streiks und Proteste auf. Die CNT ist kleiner, hält aber am strikten Prinzip der basisdemokratischen Selbstverwaltung ohne staatliche Unterstützung fest. Daneben existieren zahlreiche lokale Initiativen: besetzte Sozialzentren, Genossenschaften, anarchistische Verlage und Kulturvereine.

Erinnerung
In Spanien erinnern vor allem in Aragon, Katalonien und Valencia lokale Gedenkinitiativen an die Kollektive von 1936. International gilt die Revolution bis heute als das größte Experiment anarchistischer Selbstverwaltung und ist ein wichtiger Bezugspunkt für soziale Bewegungen, Commons-Debatten und basisdemokratische Politik [5][8].

6. Reflexionen

Krieg als Motor oder Bürde?
Die Revolution von 1936/37 entstand aus dem Widerstand gegen den Militärputsch. Ohne den Krieg hätte sich die anarchistische Selbstverwaltung wohl kaum in diesem Umfang durchsetzen können. Der Krieg schweißte zusammen, war aber zugleich eine ständige Bürde. Er zwang zu Kompromissen, zur Anpassung an militärische Strukturen und nahm den Kollektiven viele Ressourcen. Vielleicht war es gerade diese Spannung zwischen Aufbruch und Bedrohung, die das Experiment zugleich beflügelte und begrenzte. Ob eine anarchistische Gesellschaft dieser Größenordnung in Friedenszeiten stabil hätte bestehen können, bleibt offen – die historische Chance, dies zu erproben, gab es nie.

Warum uns der Staat selbstverständlich erscheint
Heute fällt es schwer, sich eine Gesellschaft ohne Staat vorzustellen. Der moderne Staat ist für uns der Normalfall. Über Jahrhunderte hat sich das Bild vom Staat als Garant von Ordnung, Recht und Sicherheit in unser kollektives Gedächtnis eingeprägt. In unserem Denken ist er so tief verankert, dass Alternativen wie Anarchie schnell wie Chaos erscheinen. Moderne Gesellschaften sind zudem stark vernetzt und komplex, was die Vorstellung lokaler Selbstverwaltung in föderalen Strukturen oft wie eine Utopie erscheinen lässt. Die spanische Erfahrung zeigt jedoch, dass auch hochindustrialisierte Regionen wie Katalonien kurzfristig ohne staatliche Zentralmacht funktionieren konnten.

Könnte es heute funktionieren?
Damit auch heute eine anarchistische Gesellschaft funktionieren könnte, bräuchte es einige Voraussetzungen: klare gemeinsame Werte und Ziele, verlässliche Föderationen zwischen lokalen Einheiten, transparente Kommunikation und Koordination für Alltagsthemen wie Energie, Transport, Gesundheit und Ernährung – sowie Schutzmechanismen gegen Machtkonzentration. Im Kleinen ist das eher erreichbar. Wo eine überschaubare Gruppe mit gemeinsamem Selbstverständnis handelt, lassen sich Aufgaben rotieren, Delegierte abwählen und Konflikte direkt klären. Je größer die Struktur wird, desto stärker drohen innere Risiken, wie informelle Hierarchien, persönliche Machtansprüche, Ressourcenkonflikte und Trägheit in Entscheidungswegen.

Hinzu kommt natürlich auch noch die Gefahr von Außen. Nachbarn mit zentralisierten Apparaten die Druck ausüben - militärisch, mit Sanktionen und Blockaden oder durch einen Informationskrieg (Delegitimierung, Spaltungsnarrative). Schließlich werden Staaten mit aller Macht verhindern, dass der Anarchismus Schule macht, da er auch ihre eigene Ordnung in Gefahr bringen würde.

Lehren für uns
Selbst wenn eine staatenlose Gesellschaft heutzutage kaum realistisch wirkt, lassen sich Prinzipien übertragen. Weniger Hierarchie, mehr Mitbestimmung und echte Abwählbarkeit von Verantwortlichen könnten auch heutige Organisationen demokratischer machen. Solidarität kann enorme Kräfte freisetzen, gerade in Krisenzeiten. Und viele Zeitzeugen berichten, dass das Gefühl von Würde und Freiheit wuchs, wenn man gemeinsam Verantwortung trug. Nicht die Abwesenheit des Staates ist entscheidend, sondern die Erfahrung, dass Menschen sich von unten organisieren können und dass darin ein Stück von Glück, Sinn und Gemeinschaft liegt.

Fazit

Der spanische Anarchismus blieb kein utopischer Traum, sondern wurde zum real erprobten Gesellschaftsmodell. Millionen Menschen lebten für kurze Zeit ohne Chefs, ohne Staat, ohne Kapitalismus und doch scheiterte es an Krieg, Spaltung und äußeren Mächten.
Doch die Erfahrung lehrt, Gleichheit und Selbstverwaltung sind möglich, aber sie brauchen robuste Strukturen, klare Machtmechanismen und Schutz vor Zersetzung von innen wie außen.

Abschließend nochmal ein Zitat von Orwell, das den damaligen Geist deutlich macht:
„Vor allen Dingen aber glaubte man an die Revolution und die Zukunft. Man hatte das Gefühl, plötzlich in einer Ära der Gleichheit und Freiheit aufgetaucht zu sein. Menschliche Wesen versuchten, sich wie menschliche Wesen zu benehmen und nicht wie ein Rädchen in der kapitalistischen Maschine.“ [4]

Quellen

  1. Ecker, H.-P. (2015). Libertärer Kollektivismus in Spanien. Vergleich von Zeitzeugenberichten über die ländliche Kollektivierungsbewegung 1936–1939 (Diplomarbeit, JKU Linz). https://epub.jku.at/obvulihs/download/pdf/496319
  2. Froidevaux, A. (Hrsg.). (2015). 80 Jahre danach – Der spanische Bürgerkrieg 1936-1939 https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Materialien/Materialien14_Spanischer_Buuergerkrieg_2.Aufl.pdf
  3. Bernecker, W. L. Anarchismus und Bürgerkrieg. Zur Geschichte der sozialen Revolution in Spanien 1936-1939. https://library.fes.de/pdf-files/netzquelle/nq-spanien/a78-01494.pdf
  4. Orwell, G. (1975). Mein Katalonien. Bericht über den Spanischen Bürgerkrieg. Zürich: Diogenes. https://nemesis.marxists.org/pdf/George%20Orwell%20-%20Mein%20Katalonien.pdf
  5. Wikipedia. (2025). Anarchismus in Spanien. Abgerufen am 19.09.2025 von https://de.wikipedia.org/wiki/Anarchismus_in_Spanien
  6. Wikipedia. (2025). Confederación Nacional del Trabajo. Abgerufen am 19.09.2025 von https://de.wikipedia.org/wiki/Confederaci%C3%B3n_Nacional_del_Trabajo
  7. Wikipedia. (2025). Federación Anarquista Ibérica. Abgerufen am 19.09.2025 von https://de.wikipedia.org/wiki/Federaci%C3%B3n_Anarchista_Ib%C3%A9rica
  8. Wikipedia. (2025). Spanischer Bürgerkrieg. Abgerufen am 19.09.2025 von https://de.wikipedia.org/wiki/Spanischer_B%C3%BCrgerkrieg
  9. Wikipedia. (2025). Anarchismus. Abgerufen am 19.09.2025 von https://de.wikipedia.org/wiki/Anarchismus
Folge mir: Facebook-Profil von Neu Denken Instagram-Profil von Neu Denken LinkedIn-Profil von Neu Denken X (Twitter)-Profil von Neu Denken Mastodon-Profil von Neu Denken
Newsletter:

Kommentare