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Die zweite edle Wahrheit – Die Ursache des Leidens – Samudaya

Die zweite edle Wahrheit – Die Ursache des Leidens – Samudaya

Eine Buddhafigur mit einen Wassertropfen, einer Flamme und einer Rauchwolke, die Durst, und die drei Geistesgifte symbolisieren

📌 Kurz & Klar:
  • Leiden entsteht nicht zufällig, sondern durch Ursachen.
  • Als Ursache nennt der Buddha taṇhā – Durst: das rastlose Begehren nach Angenehmem und das Meiden von Unangenehmem.
  • Es gibt drei Formen: Durst nach Sinnenlust, nach Sein, nach Nichtsein.
  • Das Anhaften an Taṇhā schafft Identität („Ich will, ich bin“) und damit die Grundlage von Dukkha.
  • Freiheit entsteht, wenn wir den Durst erkennen, ohne ihm zu folgen.

Einleitung: Von der Diagnose zur Ursache

Im ersten Teil haben wir die erste edle Wahrheit betrachtet: das Leiden (Dukkha).
Wir haben gesehen, dass es nicht nur um Schmerz oder Trauer geht, sondern um ein tieferes Unbehagen, das allen bedingten Erfahrungen innewohnt. Alles Bedingte ist unbeständig und daher nie völlig zufriedenstellend.

Doch nachdem wir das Leiden erkannt haben stellt sich zwangsläufig die nächste Frage:
Warum entsteht es überhaupt? Was ist die Ursache?
Wie kommt es, dass immer wieder Leid und Unzufriedenheit entsteht, selbst dann wenn eigentlich alles gut scheint?

Samudaya bedeutet Ursache und hier setzt nun die zweite edle Wahrheit an.
Der Buddha beschreibt sie im Dhammacakkappavattana Sutta als den Ursprung des Leidens:

Und das ist die edle Wahrheit vom Ursprung des Leidens:
Es ist das Verlangen (taṇhā), das zu künftigen Leben führt.
Es ist mit Genießen und Gier vermischt und vergnügt sich überall, wo es ankommt:
nämlich Verlangen nach Sinnenfreuden, Verlangen danach, das Dasein fortzusetzen,
und Verlangen danach, das Dasein zu beenden.
Der Buddha spricht hier von taṇhā, was wörtlich „Durst“ bedeutet. Dieser Durst treibt das Leben an, hält es in Bewegung und bindet uns an den Kreislauf des Leidens. Mit „künftigen Leben“ ist in der traditionellen Sicht gemeint, dass dieser Drang immer wieder zu neuem Werden führt – zu immer neuen Existenzen. Es ist taṇhā, das uns aus dieser Sicht an den Daseinskreislauf fesselt. Endet der Durst, so wird es keine neue Geburt geben.

Man muss das jedoch nicht im Sinne einer wörtlichen Wiedergeburtslehre verstehen.
Auch psychologisch lässt sich diese Dynamik beobachten:
Jedes Mal, wenn Durst entsteht, erschaffen wir ein neues „Selbst“ – ein Ich, das etwas will, etwas meidet oder etwas festhalten möchte.

Stell dir vor du hast ein Verlangen, etwa „Ich will diese Uhr haben.“ Im selben Moment entsteht auch ein Selbstbild: „Ich bin jemand, der teure Uhren mag.“ Dieses „Ich“ ist nicht dauerhaft, sondern ein momentanes Konstrukt des Geistes, eine Art Rolle, die aus dem Verlangen hervorgeht. Man könnte sagen, das Verlangen definiert kurzzeitig, wer wir sind.

So gebären wir ununterbrochen neue innere Welten und mit jedem „Ich will“ beginnt ein neuer Kreislauf von Hoffnung und Enttäuschung. Der Buddha beschreibt also kein metaphysisches Schicksal, sondern ein immer wieder entstehendes psychisches Muster.
„Künftige Leben“ meint dann: die nächste Welle von Erfahrung, das nächste Entstehen eines Begehrens, das nächste „Ich“, das an etwas anhaftet.

Im Folgenden werden wir taṇhā und seine drei Ausprägungen genauer betrachten, um zu verstehen, wie dieser Durst entsteht, wie er sich ausdrückt und wie wir beginnen können, ihn zu erkennen.

Taṇhā – Der Durst als Kern des Leidens

Taṇhā zeigt sich in unzähligen Formen – als Wunsch, als Streben, als Drang, als subtile Unruhe im Hintergrund unserer Gedanken. Er ist nicht nur das offensichtliche Wollen nach Dingen, Erlebnissen oder Menschen, sondern die ständige Bewegung des Geistes, der sich von Moment zu Moment an etwas anheftet.

Dieser Durst entspringt dem Gefühl, dass etwas fehlt, dass dieser Augenblick nicht ganz genug ist. Er sucht Halt im Vergänglichen, greift nach Angenehmem, stößt Unangenehmes ab und versucht, die Welt in eine Form zu bringen, die unseren Vorstellungen entspricht.

Er unterscheidet drei Hauptformen dieses Durstes, in denen sich unser Geist immer wieder verstrickt: den Durst nach Sinnenlust, den Durst nach Sein und den Durst nach Nicht-Sein.
Diese drei Richtungen sind keine abstrakten Ideen, sondern lassen sich im Alltag unmittelbar erkennen – in unseren Wünschen, Ängsten und Vermeidungsstrategien.

1. Kāma-taṇhā – Der Durst nach sinnlichem Vergnügen

Das ist die offensichtlichste Ausprägung. Wenn wir an Verlangen denken, denken wir wahrscheinlich an das Streben nach angenehmen Sinneseindrücken, nach Lust, Genuss, Besitz und Anerkennung.Es ist das „Ich will mehr“ in uns, das nie ganz satt wird.

Im Alltag begleitet uns dieser Durst ständig. Nicht nur im Wunsch nach Essen, Sexualität oder Konsum, auch im Drang nach Aufmerksamkeit, nach Unterhaltung oder nach ständiger Stimulation durch digitale Medien.

Es geht nicht darum, Freude zu verteufeln. Problematisch wird es, wo aus Genuss Greifen wird, also wo wir das Angenehme festhalten und steigern wollen oder danach gieren, obwohl es naturgemäß vergeht.

2. Bhava-taṇhā – Der Durst nach Sein

Hier geht es nicht um äußere Dinge, sondern um Identität. Wir wollen jemand sein: erfolgreich, geliebt, klug, spirituell, besonders. Wir schaffen Bilder von uns selbst und versuchen, ihnen gerecht zu werden.

Dieser Durst ist nicht so leicht zu erkennen. Oft kleidet er sich in scheinbar heilsame Formen:
„Ich will wachsen.“
„Ich will besser werden.“
„Ich will Frieden finden.“

An sich ist der Wunsch nach Entwicklung nicht falsch. Doch sobald ein Ich darin auftaucht, das sich verwirklichen oder beweisen will, verwandelt sich der heilsame Wunsch in Durst.
Bhava-taṇhā wurzelt im Glauben an ein festes Selbst und zeigt sich etwa in Ehrgeiz, Stolz oder Streben nach Erfolg.

3. Vibhava-taṇhā – Der Durst nach Nicht-Sein

Genauso schwer wiegt der Wunsch, dass etwas verschwindet – Schmerz, Angst, Leere, Scham oder sogar das eigene Ich.

Dieser Durst äußert sich als Fluchtimpuls:
„Ich will das nicht fühlen.“
„Ich will das vergessen.“
„Ich will einfach Ruhe.“

Es ist der Versuch dem Leiden zu entkommen, der selbst zu neuem Leid führt.
Vibhava-taṇhā zeigt sich in Vermeidung und Betäubung durch Ablenkung, Konsum oder Drogen. Im Extremfall kann er sogar zur Selbstverneinung führen – zu dem Wunsch, nicht mehr zu existieren.

Zusammenfassung

Alle drei Formen von taṇhā sind Ausdruck desselben Mechanismus:
Sie entstehen aus dem Versuch die Realität zu kontrollieren. Wir jagen Angenehmem nach und vermeiden das Unangenehme, anstatt das Leben so zu nehmen wie es ist. Diese Spannung aus dem was ist und dem was wir gerne hätten erzeugt Dukkha.

  • kāma-taṇhā: Verlangen nach Lust und Reizen („mehr davon“).
  • bhava-taṇhā: Verlangen an Identität und Rollen („so bin ich/so muss ich werden“).
  • vibhava-taṇhā: Wegdrücken und Betäuben („das darf nicht da sein“).

Es ist die spontane, oft unbewusste Reaktion des Geistes auf eine angenehme, unangenehme oder neutrale Erfahrung. Solches Verlangen entsteht in jedem Menschen unwillkürlich – wie ein Impuls oder eine Welle im Bewusstsein. Wenn dieses Begehren beobachtet und nicht ergriffen wird, kann es einfach entstehen und vergehen, ohne Folgen zu hinterlassen. Erst das Ergreifen führt vom Durst zum Leid.

Upādāna – Vom Verlangen zum Ergreifen

Upādāna beschreibt das Aneignen und Festhalten dessen, was begehrt wird. Es ist die Reaktion auf das Verlangen. Anstatt dieses als unpersönlichen Prozess zu betrachten, der kommt und geht, haften wir daran an.

Es ist der Moment, in dem wir uns mit einem Gedanken, Gefühl oder Objekt identifiziert und sagen: „Das gehört zu mir.“ oder „Das bin ich.“

Der Buddha unterschied vier Formen des Anhaftens:
An Sinneslust (kāma-upādāna), an Ansichten (diṭṭhi-upādāna), an Regeln und Konzepten (sīlabbata-upādāna) und an der Vorstellung eines Selbst (attavādupādāna).
Jede dieser Formen bindet den Geist an das, was vergänglich ist und erzeugt so immer neue Runden von Werden und Leiden.

Psychologisch betrachtet ist upādāna die Gewohnheit, Erleben in Geschichten zu verwandeln:
Aus „da ist Freude“ wird „ich bin glücklich“. Aus „da ist Schmerz“ wird „mir passiert Unrecht“.
Später im Artikel werden wir Upādāna nochmal bei der Kette der bedingten Entstehung begegnen.

Die drei Geistesgifte – Der Motor des Durstes

Hinter dem Durst stehen drei Grundtendenzen des Geistes, die der Buddha die „Wurzeln des Unheilsamen“ (akusala-mūla) nennt: Gier (lobha), Hass (dosa) und Verblendung (moha).
Sie sind die emotionale und kognitive Dynamik, die den Durst antreiben und aufrechterhalten.

  • Gier (lobha) ist die Bewegung hin zum Angenehmen. Sie nährt kāma-taṇhā – den Wunsch, zu besitzen, festzuhalten, zu genießen. Psychologisch zeigt sie sich in Anziehung, Begehren und dem Glauben, Glück liege im Haben. Gier wirkt auch auf bhava-taṇhā (Verlangen nach Sein), wenn wir uns mit Status oder Identität identifizieren wollen.
  • Hass (dosa) ist die Bewegung weg vom Unangenehmen. Sie nährt vibhava-taṇhā – den Impuls, zu fliehen, zu verdrängen, auszuschließen. In ihr steckt Widerstand gegen das, was ist. Wenn wir Schmerz, Konflikte oder unangenehme Gefühle vermeiden wollen, ist dosa die Kraft, die uns zur Flucht oder Verdrängung antreibt.
  • Verblendung (moha) ist das Nicht-Sehen der Wirklichkeit. Sie ist die Grundlage aller Formen von taṇhā: Ohne sie wüssten wir, dass alles vergänglich und unkontrollierbar ist, und der Durst würde sich von selbst lösen.

Zusammen bilden sie den Motor des Leidens – Haben-Wollen, Nicht-Haben-Wollen und Nicht-Sehen. Solange diese drei Tendenzen unbewusst wirken, dreht sich das Rad des Begehrens weiter. Sobald wir lernen sie zu erkennen, beginnt sich ihre Macht zu verringern.

Unwissenheit (avijjā ) – Die tiefste Wurzel

Unwissenheit ist im Buddhismus die tiefste Wurzel des Leidens. Sie bedeutet nicht, dass uns Wissen fehlt, sondern dass wir die Wirklichkeit falsch wahrnehmen. Wir sehen die Welt durch die Linse unserer Wünsche, Ängste und Vorstellungen und übersehen dabei, wie sie wirklich ist.

Im Kern bedeutet Unwissenheit, dass wir die drei Daseinsmerkmale nicht erkennen und leben als gäbe es sie nicht:
Wir leben, als wäre das Unbeständige beständig,
das Bedingte befriedigend
und als hätte das Prozesshafte ein festes Selbst.

Solange wir die Natur der Dinge nicht direkt erkennen, reagieren wir automatisch: Wir greifen, wenn etwas angenehm ist, und stoßen ab, wenn es unangenehm wird.
Erst wenn Einsicht (paññā) entsteht, beginnt sich dieser Automatismus zu lösen. Wir sehen dann, dass Erleben selbst schon Veränderung ist und dass Festhalten in einer sich wandelnden Welt der Ursprung von Leid ist.

Unwissenheit ist auch das erste Glied der Kette des bedingten Entstehens (paṭicca-samuppāda), der wir uns im Folgenden zuwenden. Sie zeigt, wie aus dieser Fehlwahrnehmung Schritt für Schritt das ganze Geflecht des Leidens entsteht.

📌 Infobox: Das Missverständnis des Ich
Ein zentraler Ausdruck von Unwissenheit ist die Vorstellung eines festen, unabhängigen Selbst.
Wir erleben Gedanken, Empfindungen und Handlungen – und schließen daraus, es müsse jemanden geben, der sie „hat“.
Doch der Buddha beschreibt das, was wir „Ich“ nennen, als ein Zusammenspiel bedingter Prozesse: Körper, Empfindung, Wahrnehmung, Geistesformationen und Bewusstsein – die fünf Skandhas.
Diese entstehen in Abhängigkeit voneinander und verändern sich unaufhörlich.
Wenn wir sie für ein beständiges Selbst halten, entsteht Anhaften: „Ich bin so“, „Das gehört mir“, „Ich darf nicht so sein.“
Das Ich-Gefühl hilft uns, uns in der Welt zu orientieren, besitzt aber keine wirkliche Gültigkeit.
Das Gehirn konstruiert fortlaufend ein Selbstmodell, das Erfahrungen ordnet und Handlung ermöglicht. Problematisch wird es erst, wenn wir dieses Modell für die Wirklichkeit selbst halten.
Anattā bedeutet nicht, dass du „niemand“ bist. Es bedeutet, das was du als Ich erlebst, entsteht aus Bedingungen, verändert sich und vergeht. Es hat keinen festen unveränderlichen Kern, sondern ist ein Prozess.
Je tiefer diese Einsicht reift, desto weniger muss sich das Geist verteidigen und desto leichter kann Loslassen geschehen.

Das bedingte Entstehen (paṭicca-samuppāda) – Wie Leiden entsteht

Das bedingte Entstehen beschreibt nicht Leid an sich, sondern die Bedingungskette, durch die Erfahrung – und damit auch Leid – entsteht. Es ist eine funktionale Karte: Von Unwissenheit über Gefühl und Durst bis hin zu Werden und „Geburt“ zeigt sie, wie aus neutralen Prozessen ein leidvoller Kreislauf werden kann und gibt uns die Möglichkeit Stellen zu erkennen, an dem er unterbrochen werden kann.

Die zwölf Glieder des bedingten Entstehens (Erklärungen vereinfacht)

  1. Unwissenheit (avijjā) – das Nichtsehen der Wirklichkeit
  2. Geistesformationen (saṅkhārā) – willentliche oder automatische Reaktionsmuster, die zukünftiges Erleben formen
  3. Bewusstsein (viññāṇa) – das Erleben oder Gewahrsein entsteht
  4. Name und Form (nāma-rūpa) – die psychophysische Einheit: Geist und Körper
  5. Sechs Sinnesgrundlagen (saḷāyatana) – Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Tasten und Denken
  6. Kontakt (phassa) – der Moment, in dem Sinnesobjekt, Sinnesorgan und Bewusstsein zusammentreffen
  7. Gefühl (vedanā) – die unmittelbare Empfindung, die auf einen Sinneskontakt folgt: angenehm, unangenehm oder neutral
  8. Durst (taṇhā) – das Verlangen, das Angenehme haben zu wollen oder das Unangenehme zu vermeiden
  9. Anhaften (upādāna) – das Ergreifen und Identifizieren
  10. Werden (bhava) – die Entstehung neuer Handlungen, Rollen und Selbstzustände
  11. Geburt (jāti) – das Entstehen neuer Erfahrungen und Identifikationen
  12. Altern und Tod (jarā-maraṇa) – Vergänglichkeit, Verlust, Zerfall

Wie die Kette funktioniert – drei Schlüsselmomente

Um zu verstehen, wie diese Kette wirkt, schauen wir uns drei entscheidende Übergänge genauer an, an denen aus neutraler Erfahrung Leiden entsteht.

1. Von Gefühl zu Durst (vedanā → taṇhā)

Ein Sinneseindruck (dazu zählt im Buddhismus auch Denken) trifft ein und ein Gefühl entsteht: angenehm, unangenehm oder neutral. Dieser Moment ist noch neutral. Das Problem entsteht erst, wenn der Geist reagiert:

  • Angenehm → "Mehr davon!"

  • Unangenehm → "Das muss weg!"

  • Neutral → "Langweilig, was jetzt?"

Beispiel: Du siehst ein Urlaubsfoto auf Social Media. Unbehagen steigt auf (vedanā). Dann kommt der Impuls: "Das will ich auch" (taṇhā)

Eingriffspunkt: Wenn du das Gefühl erkennst und sein lässt, ohne zu reagieren, bricht die Kette hier ab.

2. Vom Durst zum Ergreifen (taṇhā → upādāna)

Der Durst ist noch flüchtig. Doch dann greift der Geist zu und macht daraus Identität: "Ich bin jemand, der das will." "Das gehört zu mir."

Beispiel: Bleiben wir bei dem Beispiel mit dem Urlaubsfoto. Nachdem der Durst entstanden ist machen wir daraus eine Geschichte: "Warum habe ich so ein Leben nicht? Ich werde mir das nie leisten können."

Eingriffspunkt: Erkenne den Durst als vorübergehende Regung, ohne daraus eine Geschichte zu machen.

3. Unwissenheit als Startpunkt (avijjā → saṅkhārā)

Wir sehen die Welt nicht, wie sie wirklich ist. Wir übersehen, dass alles vergänglich (anicca), unzulänglich (dukkha) und ohne festes Selbst (anattā) ist.
In dieser Unwissenheit reagiert der Geist automatisch. Er konstruiert Geschichten, Urteile, Erwartungen. Daraus entstehen willentliche und automatische Reaktionsmuster (saṅkhārā): Wir greifen nach Angenehmem, stoßen Unangenehmes ab, verteidigen ein Selbstbild.

Beispiel: Ein Kollege kritisiert dich. Aus Unwissenheit (avijjā) entsteht sofort die Vorstellung: „Ich werde angegriffen, ich bin im Recht, er im Unrecht." Diese Wahrnehmung ist bereits verzerrt, sie setzt ein festes Ich voraus. Daraus entstehen gestaltende Impulse (saṅkhārā): Der Geist formt Ärger, Rechtfertigung, innere Verteidigung – Reaktionen, die nun das weitere Erleben prägen. Hättest du in diesem Moment erkannt, dass Kritik nur ein vergängliches Ereignis ist und kein echter Angriff auf ein festes Selbst, würden diese Impulse nicht entstehen.

Eingriffspunkt: Kultiviere Weisheit (paññā) durch Meditation und Reflexion. Wenn du erkennst, dass nichts dauerhaft ist, dass kein Zustand Sicherheit bieten kann und es kein Selbst gibt, das es zu verteidigen gilt. Du handelst dann nicht mehr aus Unwissenheit, sondern aus Einsicht.  

Fazit: Das Muster erkennen

Die zweite edle Wahrheit führt uns mitten ins Herz des menschlichen Geistes. Sie zeigt, dass Leiden nicht von außen kommt, sondern aus dem Zusammenspiel von Unwissenheit, Durst und Anhaften entsteht. Doch genau das gibt uns Freiheit, da die Ursachen im Geist liegen, haben wir selbst die Möglichkeit, diese aufzugeben.

Es ist nicht damit getan, die Ursachen nur intellektuell zu verstehen. Erinnern wir uns an die drei Schritte: Erkennen, Üben und Anwenden, Verwirklichen. Wir müssen die Ursachen also in unserem eigenen Leben beobachten, sie durchschauen. Verwirklichen bedeutet, dass wir die Ursachen verinnerlicht haben. Wir erkennen sie, wenn sie auftreten, und sie haben ihre Macht über uns verloren.

Mögen wir lernen die Ursachen des Leids zu erkennen.
Möge dieses Wissen uns helfen, das Leid zu überwinden.
Mögen wir in Friede und Einklang miteinander leben.

Ausblick auf Teil 3

Im nächsten Teil richten wir den Blick über den Buddhismus hinaus.
Auch westliche Philosophen haben das Leiden und die Unzufriedenheit des Menschen beschrieben – auf ihre ganz eigene Weise.
Von Schopenhauer über die Stoiker, bis zu den Existenzphilosophen finden wir faszinierende Parallelen und Unterschiede.
So wird sichtbar: Dukkha ist keine asiatische Idee, sondern eine universelle menschliche Erfahrung und das Verstehen seiner Ursachen führt uns einen Schritt näher zu seiner Überwindung.

Quellen

  1. Dhammacakkappavattana-Sutta – „Das Rad des Dhamma vorwärts rollen“ (SN 56.11)
    SuttaCentral, Deutsche Übersetzung von Bhikkhu Sabbamitta: https://suttacentral.net/sn56.11/de/sabbamitta
  2. Paticca-samuppāda-Sutta – „Abhängiges Entstehen“ (SN 12.1)
    SuttaCentral, Deutsche Übersetzung von Bhikkhu Sabbamitta: https://suttacentral.net/sn12.1/de/sabbamitta
  3. Paccaya-Sutta – „Bedingungen“ (SN 12.20)
    SuttaCentral, Deutsche Übersetzung von Bhikkhu Sabbamitta: https://suttacentral.net/sn12.20/de/sabbamitta
  4. Assutavā-Sutta – „Ungebildet“ (SN 12.61)
    SuttaCentral, Deutsche Übersetzung von Bhikkhu Sabbamitta: https://suttacentral.net/sn12.61/de/sabbamitta
  5. Anattalakkhaṇa-Sutta – „Die Kennzeichen dessen, was ohne Selbst ist“ (SN 22.59)
    SuttaCentral, Deutsche Übersetzung von Bhikkhu Sabbamitta: https://suttacentral.net/sn22.59/de/sabbamitta
  6. Mūlakasutta – „Wurzeln des Untauglichen“ (AN 3.69)
    SuttaCentral, Deutsche Übersetzung von Bhikkhu Sabbamitta: https://suttacentral.net/an3.69/de/sabbamitta
  7. Upādāna-Sutta – „Ergreifen“ (SN 12.52)
    SuttaCentral, Deutsche Übersetzung von Bhikkhu Sabbamitta: https://suttacentral.net/sn12.52/de/sabbamitta

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