📜 Was ist Demokratie? Definition, Geschichte, Typen und Herausforderungen
- 1. Was ist Demokratie? (Definition & Kernidee)
- 2. Abgrenzung: Was Demokratie nicht ist
- 3. Kernelemente demokratischer Ordnung
- 4. Geschichte der Demokratie im Überblick
- 5. Demokratietypen
- 6. Demokratieverständnisse
- 7. Aktuelle Herausforderungen
- 8. Lösungsansätze & Innovationen
- 9. Die Artikelreihe
- 10. Glossar: Grundbegriffe verständlich erklärt
Einleitung
Demokratien weltweit stehen vor tiefgreifenden Herausforderungen. Steigende politische Polarisierung, wachsende soziale Ungleichheit und ein Vertrauensverlust in politische Institutionen sind Symptome einer strukturellen Krise. Forschungsergebnisse zeigen, dass politische Entscheidungen häufig stärker mit den Interessen wohlhabender Bevölkerungsgruppen übereinstimmen als mit denen ärmerer Bürger – ein Muster, das demokratische Gleichheit untergräbt (Gilens & Page, 2014, Schäfer, Hense, Elsässer 2017).
Hinzu kommt, dass nationale Regierungen heute vielfach durch internationale Abhängigkeiten und wirtschaftliche Zwänge eingeschränkt sind. Wahlversprechen werden nicht immer umgesetzt, und der Unterschied zwischen verschiedenen Regierungsparteien erscheint in zentralen Politikfeldern oft gering.
Der britische Politikwissenschaftler Colin Crouch beschreibt diesen Zustand als „Postdemokratie“ – eine Phase, in der die demokratischen Institutionen zwar weiterbestehen, Wahlen stattfinden und Parlamente arbeiten, die reale politische Macht jedoch zunehmend von kleinen, einflussreichen Eliten und wirtschaftlichen Akteuren ausgeübt wird.
Vor diesem Hintergrund untersucht diese Artikelreihe die Grundlagen, Strukturen und Entwicklung der Demokratie – von ihren historischen Wurzeln bis zu aktuellen Herausforderungen. Ziel ist es, ein fundiertes Verständnis zu fördern, demokratische Möglichkeiten und Grenzen zu beleuchten und Reformansätze zu diskutieren, die demokratische Beteiligung und Legitimität stärken könnten.
1. Was ist Demokratie? (Definition & Kernidee)
Der Begriff „Demokratie“ stammt aus dem Altgriechischen: dēmos = Volk und krátos = Herrschaft. Er entstand um 500 v. Chr. in Athen, wo er eine Form direkter Bürgerbeteiligung bezeichnete. Auch wenn Athen oft als „Wiege der Demokratie“ gilt, hatte dieses Modell deutlich weniger Einfluss auf unsere heutigen Demokratien als das Römische Reich, dessen Rechtsprinzipien, Institutionen und Bürgerkonzepte nachhaltiger wirkten. In der Politikwissenschaft gibt es unterschiedliche Definitionen von Demokratie – vom historischen Verständnis bis zu den modernen, normativen Kriterien wie Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, Grundrechten und politischer Gleichheit.
Historische Definition
Historisch bezeichnete „Demokratie“ eine Form der politischen Ordnung, in der die wichtigsten Entscheidungen direkt oder indirekt durch die Mitglieder einer Gemeinschaft getroffen werden, meist in einer Versammlung aller Stimmberechtigten. In Athen war Demokratie eine Form der direkten Bürgerbeteiligung, allerdings mit stark eingeschränktem Wahlrecht: Frauen, Sklaven und Zugewanderte waren ausgeschlossen.
Demokratieähnliche Strukturen existierten auch unabhängig vom griechischen Modell, etwa bei indigenen Kulturen wie den Haudenosaunee (Irokesen-Konföderation) in Nordamerika oder bestimmten Stammesräten in Afrika und Ozeanien. Diese Systeme nutzten oft Konsensentscheidungen, Rotationsprinzipien und breite Mitspracherechte innerhalb der Gemeinschaft. Auch wenn sie nicht den Begriff „Demokratie“ verwendeten, erfüllten sie wesentliche Merkmale kollektiver Selbstbestimmung.
Moderne Definition
Heute beschreibt Demokratie ein Regelsystem für legitime Machtausübung: Bürger verleihen Autorität durch Wahlen oder direkte Abstimmungen und Macht wird gebunden durch Verfassung, Grundrechte und unabhängige Gerichte (Dahl, 1998). Wichtig ist die Balance aus Mehrheitsentscheidungen und Minderheitenschutz: Demokratie ist mehr als bloß das Entscheiden nach Mehrheiten, sie lebt von offener Debatte, kontrollierbarer Macht und gleichen Rechten für alle (Habermas, 1992; Rawls, 1993).
Merkmale:
- Freie, faire, regelmäßige Wahlen mit Wettbewerb
- Rechtsstaat & Grundrechte (z. B. Meinungs-, Presse-, Versammlungsfreiheit)
- Gewaltenteilung und unabhängige Gerichte (Exekutive, Judikative, Legislative)
- Pluralismus (Vielfalt von Parteien, Medien, Zivilgesellschaft)
- Rechenschaft & Transparenz (Checks & Balances)
2. Abgrenzung: Was Demokratie nicht ist
Herrschaftsform | Kurzdefinition | Entscheidungslogik | Beispielhafte Merkmale |
---|---|---|---|
Autokratie | Politische Macht konzentriert bei einer Einzelperson oder einer kleinen Gruppe | Entscheidungen per Dekret oder Anordnung | Scheinwahlen oder keine Wahlen, eingeschränkte Grundrechte |
Diktatur | Autoritäre Herrschaft mit Unterdrückung politischer Opposition | Repression, Gewalt, Kontrolle durch Sicherheitsapparate | Zensur, politische Gefangene, Verfolgung von Dissidenten |
Monarchie | Staatsoberhaupt ist ein Monarch, Amt meist erblich | Von absoluter Alleinentscheidung bis rein repräsentativer Rolle | Erbfolge, höfische Traditionen, teilweise eingeschränkte politische Mitwirkung |
Oligarchie | Macht liegt bei einer kleinen, privilegierten Elite (oft wirtschaftlich mächtig) | Entscheidungsfindung in geschlossenen Netzwerken | Elitendominanz, Klientelismus, Zugangsbeschränkungen zu Macht |
Theokratie | Politische Autorität wird von religiösen Führern oder Institutionen ausgeübt | Religiöse Lehren und Dogmen als Grundlage staatlicher Entscheidungen | Geistliche Spitzenämter, religiös geprägte Gesetze |
Wahlautoritarismus | Formale Wahlen finden statt, sind aber weder frei noch fair | Vorab festgelegte Ergebnisse, kontrollierte Opposition | Medienkontrolle, Amtsmissbrauch, Ausschluss echter Konkurrenz |
3. Kernelemente demokratischer Ordnung
Gewaltenteilung
Legislative (Gesetzgebung, z. B. Parlamente), Exekutive (ausführende Gewalt, z. B. Regierung, Verwaltung) und Judikative (rechtsprechende Gewalt, z. B. Gerichte) teilen und begrenzen sich gegenseitig, um Machtmissbrauch vorzubeugen. Unabhängige Gerichte sichern Verfassungs- und Grundrechte. (Montesquieu, 1748; Madison, 1788)
Rechtsstaatlichkeit
Es bedeutet, auch staatliches Handeln ist an das Recht gebunden, Willkür ist ausgeschlossen und alle Personen sind vor dem Gesetz gleich. Sie ist eine zentrale Voraussetzung für faire Wahlen und verlässliche wirtschaftliche Rahmenbedingungen (Acemoglu & Robinson, 2012).
Volkssouveränität & politische Gleichheit
In einer Demokratie zählt jede Stimme gleich, unabhängig von sozialem Status, Herkunft oder Einkommen. Politische Macht leitet sich von unten nach oben (bottom-up) von den Bürgern ab. Ohne eine umfassende Beteiligung aller wahl- und stimmberechtigten Personen verliert die Demokratie an Legitimität und Akzeptanz (Dahl, 1998).
Grundrechte & öffentliche Debatte
Grundrechte wie die Meinungsfreiheit, die Medienfreiheit und die Versammlungsfreiheit bilden die rechtliche Grundlage dafür, dass Bürger ihre Ansichten offen äußern, Informationen verbreiten und sich politisch organisieren können, ohne staatliche Repression befürchten zu müssen. Diese Rechte sind unverzichtbar, um den freien Austausch von Ideen und die Kontrolle politischer Macht zu ermöglichen. Auf dieser Grundlage entsteht eine öffentliche Debatte, in der Meinungen, Argumente und Informationen offen ausgetauscht werden. Eine solche kritische Öffentlichkeit ist entscheidend dafür, dass politische Entscheidungen hinterfragt, Fehler korrigiert und neue Lösungen entwickelt werden können. Ohne geschützte Grundrechte kann keine freie und pluralistische Debatte stattfinden. (Habermas, 1992).
Minderheitenschutz
Auch wenn Mehrheiten das Recht haben, Entscheidungen zu treffen, müssen diese stets im Einklang mit der Verfassung und den Grundrechten stehen. Sie dürfen keine Beschlüsse fassen, die fundamentale Freiheitsrechte verletzen oder einzelne Gruppen diskriminieren. Die Stabilität einer Demokratie hängt davon ab, dass auch diejenigen, die bei einer Abstimmung verlieren, darauf vertrauen können, dass ihre Rechte gewahrt bleiben. Damit Wahlen und Abstimmungen legitime Ergebnisse hervorbringen, müssen sie unter gleichen, transparenten und fairen Bedingungen stattfinden. Demokratie bedeutet daher nicht, dass die Gewinner uneingeschränkte Macht haben, sondern dass Macht immer durch rechtliche und moralische Schranken begrenzt ist und gleiche Rechte für alle gewahrt bleiben. (Rawls, 1993).
- Freie, faire und regelmäßige Wahlen mit echter Auswahl zwischen politischen Alternativen
- Rechtsstaatlichkeit – auch die Regierung ist an Gesetze gebunden, Willkür ist ausgeschlossen
- Gewaltenteilung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative, die sich gegenseitig kontrollieren
- Grundrechte wie Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit
- Politischer Pluralismus: Vielfalt von Parteien, Medien und gesellschaftlichen Organisationen
- Rechenschaftspflicht und Transparenz bei politischen Entscheidungen
- Schutz von Minderheiten vor der „Tyrannei der Mehrheit“
4. Geschichte der Demokratie im Überblick
Frühformen
Vor der Entstehung moderner Staaten organisierten sich viele indigene Kulturen und Stämme über Ratsversammlungen, Konsensentscheidungen und Rotationsprinzipien, etwa bei den Haudenosaunee in Nordamerika oder in afrikanischen Stammesräten (Graeber, 2011).
Antike Demokratien
Athen führte im 5. Jahrhundert v. Chr. eine direkte Bürgerbeteiligung ein, jedoch mit stark eingeschränktem Wahlrecht. Das Römische Reich prägte stärker unsere heutigen Institutionen durch republikanische Ämter, Rechtsprinzipien und Gewaltenteilung.
Mittelalterliche und vormoderne Beteiligungsformen
Stadtgemeinden, Landsgemeinden in der Schweiz, Thing-Versammlungen in Skandinavien und Ständeversammlungen verbanden Selbstverwaltung mit feudaler Herrschaft.
Aufklärung und demokratische Theoriebildung
Denker wie Locke, Montesquieu und Rousseau entwickelten Konzepte wie Volkssouveränität, Gewaltenteilung und Grundrechte; erste Verfassungen und Rechtekataloge entstanden.
Demokratische Revolutionen
Die USA (1776), Frankreich (1789) und Haiti (1791–1804) setzten zentrale Impulse für moderne Demokratien, gefolgt von Umbrüchen in Lateinamerika und Europa.
Demokratisierung im 19. und 20. Jahrhundert
Von der Ausweitung des Wahlrechts im 19. Jahrhundert über Demokratisierungsschübe nach 1918 bis zum Aufbau stabiler Systeme nach 1945 in Westeuropa, Nordamerika und Japan.
1989 bis heute
Die Demokratisierungswelle nach dem Ostblock-Zusammenbruch trifft heute auf Herausforderungen wie Globalisierung, digitale Plattformen und transnationale Krisen.
- ca. 500 v. Chr.: Direkte Bürgerbeteiligung in Athen
- 509 v. Chr.: Beginn der Römischen Republik – erste Gewaltenteilung
- 1215: Magna Carta in England – frühe Begrenzung königlicher Macht
- 1776: Unabhängigkeitserklärung der USA – Volkssouveränität als Prinzip
- 1789: Französische Revolution – Menschen- und Bürgerrechte
- 1791–1804: Haitianische Revolution – erste schwarze Republik, Abschaffung der Sklaverei
- 1948: Allgemeine Erklärung der Menschenrechte
- 1989: Demokratisierungswelle nach dem Ostblock-Zusammenbruch
Die ausführliche Geschichte der Demokratie wird in Teil 1 meiner Artikelreihe systematisch aufgearbeitet.
5. Demokratietypen
Demokratie ist nicht gleich Demokratie. Diese Übersicht zeigt die wichtigsten Unterscheidungsmerkmale demokratischer Systeme und wie diese organisiert werden.
Institutionelle Typen
- Parlamentarische Demokratie: Das Parlament wählt die Regierung, die das Vertrauen der Abgeordneten behalten muss. Beispiele: Deutschland, Vereinigtes Königreich.
- Präsidentielle Demokratie: Ein direkt gewählter Präsident führt die Regierung und hat feste Amtszeiten. Beispiele: USA, Brasilien.
- Semipräsidentielle Systeme: Präsident und Premierminister teilen sich die Regierungsaufgaben. Beispiele: Frankreich, Polen.
- Direkte Demokratie: Bürger entscheiden selbst über Gesetze, z. B. durch Volksabstimmungen. Beispiele: Schweiz, einige US-Bundesstaaten (z. B. Kalifornien).
Beteiligungslogiken
- Repräsentativ: Bürger wählen Vertreter, die für sie politische Entscheidungen treffen; Beteiligung erfolgt überwiegend über Wahlen. Beispiele: Deutschland, Vereinigtes Königreich.
- Partizipatorisch: Bürger werden umfassend einbezogen und wirken aktiv an politischen Prozessen mit. Beispiele: Bürgerhaushalte in Brasilien, lokale Beteiligungsprojekte in Deutschland.
- Deliberativ: Der Schwerpunkt liegt auf gründlichen öffentlichen Diskussionen, in denen unterschiedliche Perspektiven berücksichtigt werden, bevor entschieden wird. Beispiele: Bürgerräte in Irland, Frankreich.
- Basisdemokratisch: Alle Stimmberechtigten entscheiden direkt, ohne eine dauerhafte Vertreterebene. Beispiele: Schweizer Landsgemeinden, indigene Gemeinschaftsversammlungen.
Normative Entscheidungsprinzipien
- Liberal: Entscheidungen müssen im Rahmen der Grundrechte erfolgen und dürfen individuelle Freiheitsrechte nicht verletzen – auch dann nicht, wenn eine Mehrheit dafür stimmt. Beispiele: Deutschland, Kanada.
- Konsensorientiert: Entscheidungen werden im Ausgleich verschiedener Interessen getroffen, sodass möglichst viele mit dem Ergebnis leben können. Beispiele: Schweiz, Belgien.
- Mehrheitsbasiert: Entscheidungen folgen dem Mehrheitsprinzip, um klare und handlungsfähige Ergebnisse zu erreichen. Beispiele: Vereinigtes Königreich, Neuseeland bis 1996.
Diese Kategorisierung folgt u. a. etablierten Vergleichsstudien politischer Systeme. (vgl. Dahl, 1998; Lijphart, 1999; Altman, 2011)
Mehr dazu in Teil 2 meiner Artikelreihe: Demokratietypen – Wie politische Organisation in Demokratien funktioniert
6. Demokratieverständnisse
Unter Demokratieverständnissen versteht man unterschiedliche ideologische und theoretische Auffassungen darüber, wie das Prinzip „Alle Staatsgewalt geht vom Volk aus“ konkret umgesetzt werden sollte. Diese Sichtweisen unterscheiden sich in ihrer Haltung zu Freiheitsrechten, Beteiligungsformen, sozialer Gerechtigkeit, Marktordnung und dem Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft.
- Liberales Demokratieverständnis – Fokus auf Freiheit, Grundrechte und Schutz vor staatlicher Willkür.
- Neoliberale Demokratie – Marktfreiheit steht im Vordergrund, Staat greift möglichst wenig ein.
- Sozialdemokratische Demokratie – Demokratie mit sozialem Ausgleich und starkem Wohlfahrtsstaat.
- Kommunitaristische Demokratie – Gemeinschaft und gemeinsame Werte sind Grundlage politischer Entscheidungen.
- Ökologische Demokratie – Demokratie, die Nachhaltigkeit und Umweltschutz ins Zentrum stellt.
Diese Typisierung verschiedener Demokratieverständnisse orientiert sich an etablierten theoretischen Modellen der Demokratieforschung (vgl. Habermas, 1992; Rawls, 1993; Held, 2006; Dryzek, 2010).
In Teil 3 meiner Artikelreihe Demokratieverständnisse – Ideologische Perspektiven auf das Volk als Souverän gehe ich intensiver auf eine Vielzahl von Demokratieverständnissen ein.
7. Aktuelle Herausforderungen
- Polarisierung & Normenverlust: Politischer Wettbewerb wird zunehmend zum Kampf „Wir gegen die Anderen“. Grundlegende Regeln wie die Achtung von Fakten oder faire Verfahren geraten ins Wanken (Levitsky & Ziblatt, 2018).
- Desinformation („Fake News“): Falschnachrichten verbreiten sich im Internet oft schneller als die Wahrheit – besonders in sozialen Medien (Vosoughi et al., 2018, Science).
- Digitale Plattformen & Filterblasen: Algorithmen zeigen uns vor allem Inhalte, die zu unseren bisherigen Ansichten passen. Das kann zu abgeschlossenen „Echokammern“ führen, in denen andere Sichtweisen kaum vorkommen (Sunstein, 2001; Pariser, 2011).
- Vertrauenskrise: Viele Menschen fühlen sich von politischen Eliten entfremdet. Dieses Gefühl eines „Demokratiedefizits“ schwächt das Vertrauen in Institutionen (Norris, 2011).
- Wachsende Ungleichheit: Wenn Reichtum und wirtschaftliche Macht in wenigen Händen liegen, kann das den politischen Einfluss verzerren (Gilens & Page, 2014).
- Komplexe, langfristige Probleme: Herausforderungen wie Klimawandel, Künstliche Intelligenz oder demografische Veränderungen verlangen gut informierte und möglichst breit angelegte Entscheidungsprozesse (Dryzek, 2010; Landemore, 2020).
- Politische Polarisierung und Normenverlust
- Desinformation und Fake News
- Digitale Filterblasen und Echokammern
- Vertrauensverlust in Institutionen
- Wachsende soziale und wirtschaftliche Ungleichheit
- Einfluss globaler Abhängigkeiten auf nationale Politik
- Neue Risiken durch KI-gestützte Manipulation
Mehr zu aktuellen Herausforderungen schauen wir uns in Teil 4: Demokratie in der Realität – Entwicklungen und Krisen in der Gegenwart an.
8. Lösungsansätze & Innovationen
- Bürgerräte: Eine zufällig ausgewählte Gruppe von Bürgern diskutiert unter professioneller Moderation wichtige Themen und gibt Empfehlungen an die Politik. Studien zeigen, dass solche Räte zu besser informiertem Austausch und größerer Akzeptanz politischer Entscheidungen führen (Fishkin, 2018; OECD, 2020).
- Transparenz & Lobbyregister: Offengelegte Kontakte zwischen Politik und Interessenvertretern machen Einflüsse nachvollziehbar und stärken das Vertrauen der Bevölkerung (Lessig, 2011).
- Digitale Beteiligung: Gut gestaltete Online-Plattformen können mehr Menschen einbinden und auch jenen eine Stimme geben, die sonst seltener teilnehmen (Macintosh, 2004).
- Mehr direkte Demokratie: Häufigere und gut vorbereitete Volksentscheide, Bürgerinitiativen oder Referenden können Bürgern mehr direkten Einfluss auf politische Entscheidungen geben – vorausgesetzt, sie sind fair gestaltet und gut informiert (Altman, 2011).
- Demokratisierung der Medienlandschaft: Vielfalt und Unabhängigkeit in den Medien sichern, damit unterschiedliche Perspektiven sichtbar bleiben und keine einzelne Stimme die öffentliche Debatte dominiert (McChesney, 2015).
- Demokratische Bildung & Aufklärung: Politische Grundbildung und kritisches Denken stärken die Fähigkeit, komplexe Themen zu verstehen, Manipulationen zu erkennen und aktiv an der Demokratie mitzuwirken (Galston, 2001).
- Reformen bei Wahlen und Verfahren: Man kann das Wahlsystem so anpassen, dass es gerechter wird. Zum Beispiel könnten Wähler bei der Präferenzwahl nicht nur eine Partei ankreuzen, sondern eine Rangfolge angeben – so zählt die Stimme auch dann noch, wenn die erste Wahl ausscheidet. Faire Zuschnitte von Wahlkreisen verhindern, dass Grenzen so gelegt werden, dass eine Partei künstlich bevorzugt wird. Amtszeitbegrenzungen sorgen dafür, dass Politiker nicht zu lange im Amt bleiben und frischer Wind in die Politik kommt (Lijphart, 1999).
- Deliberative Ansätze: Verfahren, bei denen Bürger in moderierten, offenen Diskussionsformaten gemeinsam Lösungen erarbeiten, fördern nachweislich fundierteres Wissen, einen Perspektivwechsel zwischen unterschiedlichen Gruppen und eine höhere Legitimität politischer Entscheidungen (Fishkin, 2018; Landemore, 2020)
- Bürgerräte für informierte, repräsentative Beteiligung
- Deliberative Verfahren zur Förderung von Wissen, Perspektivwechsel und Legitimität
- Digitale Beteiligungsplattformen für breitere Mitwirkung
- Medienvielfalt sichern und Unabhängigkeit fördern
- Politische Bildung und kritisches Denken stärken
- Reform des Wahlrechts für fairere Vertretung
9. Die Artikelreihe
- 📜 Teil 1: Die Geschichte der Demokratie – Von frühzeitlichen Gemeinschaften bis heute.
- 🗳️ Teil 2: Demokratietypen – Wie politische Organisation in Demokratien funktioniert.
- 💬 Teil 3: Demokratieverständnisse – Ideologische Perspektiven auf das Volk als Souverän
- ⚖️ Teil 4: Demokratie in der Realität – Entwicklungen und Krisen in der Gegenwart
- 🔮 Teil 5: Zukunft der Demokratie – Wege zu mehr Beteiligung und Gerechtigkeit
10. Glossar: Grundbegriffe verständlich erklärt
- Bürgerbeteiligung: Möglichkeiten für Menschen, sich politisch einzubringen, von Wahlen über Petitionen bis zu Bürgerräten. Entscheidend ist nicht nur, wie viele teilnehmen, sondern auch, wie sinnvoll die Beteiligung ist.
- Checks and Balances: Englischer Begriff für das gegenseitige Kontrollsystem zwischen den staatlichen Gewalten, um Machtmissbrauch zu verhindern.
- Democratic Deficit (Demokratiedefizit): Wahrgenommene oder tatsächliche Lücke zwischen demokratischen Ansprüchen und der realen Umsetzung, etwa wenn Bürger wenig Einfluss auf Entscheidungen haben.
- Demokratie: Eine Staatsform, in der das Volk die politische Macht ausübt. Legitim ist sie nur bei fairen Beteiligungsmöglichkeiten, rechtsstaatlichen Verfahren und Gesetzesbindung der Regierung (Dahl, 1998).
- Deliberation: Öffentliche Diskussion, in der Argumente ausgetauscht und Positionen kritisch geprüft werden, um bessere Entscheidungen zu finden (Habermas, 1992; Fishkin, 2018).
- Direkte Demokratie: Form der Demokratie, in der Bürger selbst über Gesetze und politische Entscheidungen abstimmen, statt nur Vertreter zu wählen.
- Fake News: Falschmeldungen, die gezielt verbreitet werden, um Meinungen zu beeinflussen.
- Filterblase: Situation, in der Menschen online fast nur noch Informationen sehen, die ihre eigenen Ansichten bestätigen, oft durch Algorithmen verstärkt.
- Gewaltenteilung: Die Macht wird aufgeteilt: Parlament macht Gesetze (Legislative), Regierung führt sie aus (Exekutive), Gerichte wachen über ihre Einhaltung (Judikative). Diese Bereiche kontrollieren sich gegenseitig.
- Hybridregime: Staaten, in denen es zwar Wahlen gibt, diese aber nicht fair ablaufen oder grundlegende Rechte fehlen (Levitsky & Way, 2010).
- Minderheitenschutz: Grundrechte gelten für alle, auch wenn die Mehrheit dagegen wäre. Das verhindert, dass eine Mehrheit Minderheiten unterdrückt („Tyrannei der Mehrheit“).
- Normativ: Bezieht sich auf Werte, Prinzipien und Regeln, die beschreiben, wie etwas sein sollte – also ein Soll-Maßstab.
- Opposition: Parteien oder Gruppen, die nicht regieren, aber legal gegen die Regierung arbeiten und als Alternative bereitstehen.
- Partizipation: Allgemeiner Begriff für die Teilnahme und Mitwirkung von Bürgern an politischen Prozessen.
- Pluralismus: In einer Demokratie gibt es viele verschiedene Meinungen und Interessen, sichtbar etwa in einer vielfältigen Parteienlandschaft und unabhängigen Medien.
- Postdemokratie: Begriff von Colin Crouch (2004) für Gesellschaften, in denen demokratische Institutionen formal bestehen, die reale politische Macht aber vor allem von kleinen Eliten und wirtschaftlichen Interessen ausgeübt wird.
- Rechtsstaat: Auch die Regierung muss sich an Gesetze halten. Es gibt keine Willkür, alle sind vor dem Gesetz gleich, und man kann sein Recht vor Gericht einfordern.
- Volkssouveränität: Politische Macht kommt „von unten“: Regieren darf nur, wer die Zustimmung des Volkes hat.
- Wahlrecht: Das Recht, an politischen Wahlen teilzunehmen – historisch oft beschränkt, heute meist allgemein und gleich.
Quellenverzeichnis
- Acemoglu, D., & Robinson, J. A. (2012). Why nations fail: The origins of power, prosperity, and poverty. Crown Business.
- Altman, D. (2011). Direct democracy worldwide. Cambridge University Press.
- Crouch, C. (2004). Post-democracy. Polity Press.
- Dahl, R. A. (1998). On democracy. Yale University Press.
- Dryzek, J. S. (2010). Foundations and frontiers of deliberative governance. Oxford University Press.
- Elsässer, L., Hense, S., & Schäfer, A. (2017). “Dem Deutschen Volke”? Die ungleiche Responsivität des Bundestags. Zeitschrift für Politikwissenschaft, 27(2), 161–180. DOI
- Fishkin, J. S. (2018). Democracy when the people are thinking. Oxford University Press.
- Galston, W. A. (2001). Political knowledge, political engagement, and civic education. Annual Review of Political Science, 4(1), 217–234.
- Gilens, M., & Page, B. I. (2014). Testing theories of American politics. Perspectives on Politics, 12(3), 564–581.
- Graeber, D. (2011). Debt: The first 5,000 years. Melville House.
- Habermas, J. (1992). Faktizität und Geltung. Suhrkamp.
- Held, D. (2006). Models of democracy (3rd ed.). Stanford University Press.
- Landemore, H. (2020). Open democracy. Princeton University Press.
- Lessig, L. (2011). Republic, lost. Twelve.
- Levitsky, S., & Way, L. A. (2010). Competitive authoritarianism. Cambridge University Press.
- Levitsky, S., & Ziblatt, D. (2018). How democracies die. Crown Publishing Group.
- Lijphart, A. (1999). Patterns of democracy. Yale University Press.
- Macintosh, A. (2004). Characterizing e-participation in policy-making. IEEE.
- Madison, J. (1788). The Federalist No. 51.
- McChesney, R. W. (2015). Rich media, poor democracy. The New Press.
- Montesquieu, C. (1748). De l’esprit des lois.
- Norris, P. (2011). Democratic deficit. Cambridge University Press.
- OECD. (2020). Innovative citizen participation and new democratic institutions. OECD Publishing.
- Pariser, E. (2011). The filter bubble. Penguin Press.
- Rawls, J. (1993). Political liberalism. Columbia University Press.
- Sunstein, C. R. (2001). Republic.com. Princeton University Press.
- Vosoughi, S., Roy, D., & Aral, S. (2018). The spread of true and false news online. Science, 359(6380), 1146–1151.
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