Ich bin Kapitalist – und du wahrscheinlich auch. Lass uns da rauskommen

Ich bin Kapitalist – und du wahrscheinlich auch. Lass uns da rauskommen

Zwei Hände reißen ein rotes Preisschild mit der Aufschrift „€ 9,99“ auseinander. Im Hintergrund ist ein grüner Gemeinschaftsgarten mit Sonnenlicht und Pflanzen zu sehen – Symbol für Befreiung aus kapitalistischem Denken und Rückkehr zu Gemeinschaft und Natur.

Kapitalistisches Denken ist tief in uns verankert – nicht, weil wir es uns ausgesucht hätten, sondern weil wir darin aufgewachsen sind und dazu erzogen wurden. Wir brauchen Geld, um zu überleben. Dieses System prägt unsere Denkweise, unsere Werte und sogar unsere Beziehungen.

Das kapitalistische Denken in uns

Wir versuchen uns selbst gut zu verkaufen. Vor Freunden, in der Schule, bei Bewerbung und Arbeit, vor möglichen Sexualpartnern. Immer ist es wichtig, gut dazustehen – ja, sogar anderen überlegen zu sein. Nur wenn wir besser sind als andere, sind wir gut genug. Konkurrenzdenken ist tief in uns verankert, als wären wir alle Gegner in einem überdimensionalen Spiel.

Selbst unsere Zeit ist kapitalisiert: Wir müssen sie stets sinnvoll nutzen. Zeit ist schließlich Geld. Alles muss einen Zweck haben – Geld verdienen, Weiterbildung, Erholung. Nichts machen wir einfach umsonst.

Vom Wir zum Ich – ein verlorenes Gemeinschaftsgefühl

Wir denken individuell statt als Gemeinschaft. Wir haben jeden Gemeinschaftssinn verloren. Selbst wenn wir etwas für die Gemeinschaft tun, sind wir nur das Individuum, das etwas für die Gemeinschaft tut. Vielleicht fühlen wir uns sogar dabei noch überlegen. Was für ein großzügiger und solidarischer Mensch wir doch sind. Das individuelle Denken aufzugeben und uns als Teil des Ganzen zu sehen, ist uns völlig fremd.

Beziehungen werden nach dem Kriterium der Nützlichkeit bewertet. „Networking“ nennt man das heute – häufig auf den zukünftigen Nutzen bedacht. Selbst in Freundschaften ziehen wir oft Bilanz zwischen Geben und Nehmen.

Arbeiten, ohne zu besitzen

Es ist selbstverständlich für uns, dass Produktionsmittel nicht den Arbeitern gehören. Wenn wir nicht selbst das Kapital besitzen, arbeiten wir für andere, nicht für uns selbst. Dabei werden wir für unsere vergeudete Lebenszeit bezahlt.

Zwischen Arbeitskraft, Wertschöpfung und Lohn klafft eine immer größere Lücke. Das, was der Arbeiter wirklich erwirtschaftet, spiegelt sich immer weniger in der Entlohnung wider. Das große Geld fließt natürlich an die, die das Kapital besitzen. So geht die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander. Oder besser zwischen Faul und Fleißig, wie viele sagen würden. 

Der Traum vom Geld

Ich erwische mich selbst oft dabei, wie ich mir überlege, wie ich aus meinem Kapital – Wissen, Garten, Pflanzenbestand, Arbeitskraft – Geld machen könnte. Ich könnte Chilis anbauen, die meine Frau verkaufen könnte. Ich könnte Pflanzen vermehren und verkaufen. Beeren oder Gemüse verkaufen. Ich starte einen Blog, um meine Interessen zu verfolgen – und vielleicht noch Geld damit zu verdienen. Auch mein Denken dreht sich häufig darum, Geld zu bekommen oder zu vermehren. Wie auch nicht?

Wachstum um jeden Preis

Der Kapitalismus braucht Wachstum, um zu überleben. Diese Logik wenden wir auch auf uns selbst an. Persönliches Wachstum nennt man das.  Wir wollen uns stetig verbessern. Und so wie der Kapitalismus Profit maximieren will, wollen wir uns selbst maximieren – oft mit zerstörerischen Folgen für Körper und Geist.

Kapitalismus und Demokratie – ein Widerspruch

Wir folgen dem Irrglauben, dass zwei gegensätzliche Ideologien, Kapitalismus und Demokratie, nebeneinander existieren können. Die eine nimmt es den vielen Menschen weg, um es auf wenige zu konzentrieren. Die andere sagt, dass die Herrschaft bei den Vielen liegt. Doch das kann gar nicht aufgehen. Finanzielle Ungleichheit untergräbt politische Gleichheit.

Trotzdem nehmen wir es als gegeben hin. Unsere Überlegungen, die Demokratie zu retten, bewegen sich in der Regel weiterhin im kapitalistischen Denken – was das Ganze völlig absurd macht, da uns doch gerade dieser an den Abgrund gebracht hat.

Die Illusion des guten Kapitalismus

Fairtrade, Bio, Elektroauto oder der Irrglaube vom nachhaltigen Konsum – das sind Illusionen, denen wir gerne folgen. Sie lassen uns weitermachen wie bisher, nur mit gutem Gewissen. Doch daran, dass die Lebensweise in den Industrieländern nur durch die Ausbeutung von Natur und Mensch in ärmeren Ländern möglich ist, ändert das nichts.

Ein einfach weiter so, kann es nicht geben, auch nicht grün angestrichen. Der Kapitalismus strebt nach Profitmaximierung um jeden Preis.

Jenseits des Kapitalismus – undenkbar?

Eine nicht-kapitalistische Welt ist kaum vorstellbar. Ebenso wenig, wie ein Übergang dorthin aussehen könnte. Eher können wir uns noch vorstellen, dass die Welt plötzlich untergeht. Aber ein System ohne Kapitalismus? Wie sollte das nur aussehen?

Wir sollten es uns schnell überlegen. Es ist 5 vor 12. Angesichts der massiven Umweltzerstörungen, weltweiten Spannungen und massiven Ungleichheiten haben wir vielleicht weniger Zeit, als uns lieb ist.

Samen der Hoffnung

Natürlich habe ich vieles überspitzt dargestellt und natürlich gibt es auch Hoffnungsschimmer. Commons zum Beispiel, bei denen Gemeingüter gemeinschaftlich genutzt werden, gemeinschaftlich organisierte Betriebe, Solidarische Landwirtschaft oder Gemeinschaftsgärten. All das sind vielversprechende Alternativen, die zeigen, dass es auch anders geht.

Es bleibt essentiell, dass die Wirtschaft schrumpft, ein hohes BIP nützt nicht den Menschen. Zumindest den meisten nicht. Gleichzeitig zerstört es aber die Umwelt. Wohlstand ist für alle möglich, wenn wir aufhören einem System zu folgen, das uns zu Sklaven macht

Und was kann der Einzelne tun?

Fang an die Spielregeln zu verweigern: Repariere statt neu zu kaufen, teile statt zu besitzen, kooperiere statt konkurrieren. Hinterfrage deinen Konsum. Was brauchst du wirklich? Reduziere wenn möglich deine Arbeitszeit. Wie viel Geld benötigst du wirklich zum leben und wie gibst du es aus? Ist Lebenszeit nicht wichtiger als Geld?


Möglicherweise möchtest du dich auch einer solidarischen Landwirtschaft anschließen oder zusammen mit anderen dafür sorgen, dass deine Stadt grün und essbar wird. Es gibt viele Möglichkeiten, gemeinschaftliche Wohnprojekte oder lokale Währungen nutzen oder selbst welche gründen.

Und der radikalste Schritt ist der in deinem Innern: Höre auf, dich selbst als Kapital zu begreifen, das man vermarkten und optimieren muss. Überlege dir, wo das kapitalistische Denken auch dich indoktriniert hat und lass es los. 

Abschluss

Jetzt weißt du es. Du bist schon Kapitalist – aber du musst es nicht bleiben. Es gibt einen Weg hier raus. Es wird Zeit, die ersten Schritte zu gehen.

Welchen kleinen Schritt machst du als Nächstes?

Schreib’s in die Kommentare. Lass uns gemeinsam entkommen.

Quellen und weiterführende Links

Hans-Böckler-Stiftung (2023) "Löhne: Kapital gewinnt, Arbeit verliert".
Diese Analyse zeigt: In der EU und in Deutschland ist der Anteil der Löhne am Volkseinkommen spürbar gesunken – im Zeitraum 2020 bis Ende 2022 sank die Lohnquote um rund zwei Prozentpunkte. Parallel stiegen Unternehmensgewinne deutlich schneller als Löhne, und laut WSI-Daten trugen diese Gewinnmargen erheblich zur Inflation bei.

Bundeszentrale für politische Bildung (2012). „Politische (Un-)Gleichheit und die Versprechen der Demokratie“. Der Beitrag zeigt auf, dass das zentrale Gleichheitsversprechen der Demokratie („One man, one vote“) seit Langem nicht eingelöst ist: Bildungs- und Einkommensschwache beteiligen sich seltener und werden politisch weniger repräsentiert, während wirtschaftliche Ungleichheiten Auswirkungen auf politische Beteiligung und Repräsentation haben.

Hans-Böckler-Stiftung (2024) "Soziale Ungleichheit in Deutschland". 
Der Bericht zeigt, dass die soziale und wirtschaftliche Ungleichheit in Deutschland seit 2010 deutlich zugenommen hat: Die Armutsquote erreichte mit 17,8 % einen Höchststand, Vermögen sind extrem ungleich verteilt. Ursachen liegen u. a. im Niedriglohnsektor, sinkender Tarifbindung und steuerlichen Vorteilen für Reiche. Die Folgen sind soziale Spannungen, geringeres Vertrauen in die Demokratie und politische Entfremdung. Empfohlen werden Maßnahmen wie höhere Mindestlöhne, stärkere Tarifbindung, gerechtere Besteuerung und mehr soziale Infrastruktur.

Deutschlandfunk Kultur (2014). "Alternative zum Kapitalismus: Die Idee gemeinschaftlichen Wirtschaftens" (T. Barth). Der Beitrag zeigt, dass Genossenschaften und gemeinschaftlich organisierte Wirtschaftsformen angesichts wachsender Krisen des Finanzkapitalismus neue Bedeutung gewinnen – Menschen organisieren Arbeit, Produktion und Konsum zunehmend kooperativ statt konkurrierend.

Saitō, K. (2023). Systemsturz – Der Sieg der Natur über den Kapitalismus. München: Karl Blessing Verlag.
Der japanische Marx-Forscher Kohei Saitō entwirft die Vision eines „degrowth communism“, also einer demokratisch organisierten, ökologischen Nach-Kapitalismus-Gesellschaft. Er kritisiert den Wachstumszwang des Kapitalismus als Hauptursache von Umweltzerstörung und sozialer Entfremdung und plädiert für gemeinschaftlich orientierte Arbeit, geteilte Ressourcen und eine Ökonomie des Genug
. Ein für mich sehr inspirierendes Buch.

Stöcker, C. (2023). Homo Destructor – Warum wir zerstören, was wir lieben. Hamburg: Rowohlt Verlag.
Stöcker zeichnet die Geschichte des Menschen als eine Geschichte der zunehmenden Entfremdung von der Natur. Er zeigt, wie unsere kognitiven Fähigkeiten, die einst das Überleben sicherten, im Zusammenspiel mit kapitalistischer Wachstumslogik zu planetaren Zerstörungsmechanismen wurden. Zugleich macht er deutlich, dass Kooperation, Bildung und bewusste Selbstbegrenzung Wege sein könnten, dieses zerstörerische Verhältnis von Mensch und Natur zu überwinden.

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