Geschichte der Demokratie – von den Anfängen bis heute und ihre Lehren für unsere Zeit
- Demokratie ist kein geradliniger Fortschritt, sondern eine Geschichte von Öffnungen und Schließungen, Kämpfen und Kompromissen.
- Von indigenen Räten über Athen, Revolutionen und Verfassungsstaaten bis heute: Teilhabe war immer begrenzt und umkämpft.
- Eliten, Kolonialismus und ökonomische Macht prägten alle Epochen – Freiheit und Gleichheit galten nie für alle zugleich.
- Die Lehre: Demokratie ist ein unvollendetes Projekt. Ihre Zukunft hängt davon ab, ob wir Ausschlüsse erkennen und neue Formen der Mitbestimmung entwickeln.
- Einleitung
- 1. Formen kollektiver Entscheidungsfindung: Indigene Kulturen, Räte und Stammesgesellschaften, herrschaftslose Systeme
- 2. Antike Demokratien
- 3. Mittelalterliche und vormoderne Beteiligungsformen
- 4. Aufklärung und demokratische Theoriebildung
- 5. Revolutionen
- 6. Übergang von Monarchien zu Verfassungsstaaten
- 7. Demokratisierungsschübe nach 1918
- 8. Nach dem Zweiten Weltkrieg
- 9. 1989 bis heute
- Schlussgedanke: Demokratie als unvollendetes Projekt
- Quellen
Einleitung
Die Idee der Demokratie gilt heute in vielen Ländern als erstrebenswertes Ideal. Doch der Weg dorthin war lang und nicht geradlinig. Der folgende Artikel zeichnet die Geschichte der Demokratie nach. Von indigenen Räten und antiken Volksversammlungen bis hin zu modernen Parlamenten wurde sie kontinuierlich neu erfunden und angepasst. Charakteristisch sind Phasen der Öffnung (Erweiterung politischer Rechte) und Phasen der Schließung (Ausschluss, Repression, Elitenkompromisse)
(Tilly, 2007; Dahl, 1998). Hier findest du eine ausführliche Übersicht über Definition, Typen und aktuelle Herausforderungen der Demokratie.
Die Geschichte der Demokratie folgt dabei keiner linearen Entwicklungslogik. Jede Epoche entwickelte eigenständige Lösungen für spezifische Machtfragen. Der oft propagierte Fortschritt von Athen bis zu den modernen Demokratien ist daher eher ein Mythos als eine historische Realität.
Dieser Text blickt auf die Geschichte der Demokratie aus einer westlich-demokratischen Perspektive, die unausweichlich die Auswahl und Bewertung der Entwicklungen beeinflusst. Er versteht sich daher nicht als neutrale Gesamtdarstellung, sondern als Einladung, aus der Geschichte Denkanstöße für die Herausforderungen unserer heutigen Demokratien zu gewinnen.
Demokratie meint hier Formen politischer Ordnung, in denen Entscheidungen nicht von einer einzelnen Autorität, sondern durch Beteiligung und Mitsprache der Bevölkerung getroffen werden, mit dem Anspruch auf Gleichheit, auch wenn diese selten vollständig verwirklicht wurde.
Angesichts der aktuellen Anzeichen demokratischer Erosion (V-Dem Institute, 2025; Freedom House, 2024) lohnt der Blick zurück. Denn die Demokratie bietet nicht nur eine Geschichte von Institutionen, sondern auch von Kämpfen und Ideen, aus denen sich Lehren für unsere Zeit ziehen lassen.
1. Formen kollektiver Entscheidungsfindung: Indigene Kulturen, Räte und Stammesgesellschaften, herrschaftslose Systeme
Vor der Entstehung von Staaten organisierten viele Gemeinschaften Entscheidungen dezentral, also durch Dorfräte, Clanversammlungen, Konsensverfahren und rotierende Autorität. Beispiele reichen von Ratsstrukturen nordamerikanischer Konföderationen (z. B. Haudenosaunee) bis zu versammlungsgestützten Ordnungen in Teilen Afrikas oder Ozeaniens.
Dabei gab es kein einheitliches Modell. Die Formen politischer Teilhabe waren vielfältig und stark vom jeweiligen Kontext geprägt: Bei den Haudenosaunee bestimmten die Clan-Mütter die Häuptlinge und hatten damit maßgeblichen Einfluss, während bei den Muscogee große Versammlungshäuser den Rahmen gemeinschaftlicher Beratungen bildeten (Graeber & Wengrow, 2021). In kleinen Gemeinschaften konnten Konsensentscheidungen und rotierende Ämter gut funktionieren, größere Stammesverbände entwickelten dagegen komplexere Räte und föderale Strukturen. Frühdemokratische Praktiken waren keine Vorstufe unserer heutigen Institutionen, sondern eigenständige Modelle kollektiver Selbstorganisation, die auf den jeweiligen sozialen und ökologischen Kontext zugeschnitten waren.
Frühe Formen kollektiver Entscheidungsfindung finden sich nicht nur in der politischen Organisation, sondern auch in der Verwaltung gemeinsamer Ressourcen. Elinor Ostrom (1990) zeigte anhand vieler Beispiele, etwa Bewässerungssysteme in Spanien und auf den Philippinen, gemeinschaftlich genutzte Wälder in der Schweiz oder Weideflächen in Nepal, dass Dorfgemeinschaften eigene Regeln entwickeln können, um Wasser, Wälder oder Fischbestände nachhaltig zu nutzen. Solche Systeme funktionieren, weil Entscheidungen gemeinsam getroffen und von allen mitgetragen werden. Auch James C. Scott (2009) beschreibt Regionen wie das Bergland Südostasiens, wo ganze Gemeinschaften als „Zonen der Autonomie“ eigene Regeln etablierten und sich bewusst staatlicher Kontrolle entzogen.
Allerdings sollten diese Beispiele nicht romantisiert werden - auch in scheinbar egalitären Gemeinschaften existierten oft subtile Hierarchien basierend auf Geschlecht, Alter oder spiritueller Autorität. Für viele prähistorische oder frühhistorische Gesellschaften sind archäologische und ethnografische Befunde außerdem lückenhaft. Sicher ist aber, dass Kollektive Entscheidungsverfahren kein europäisches Monopol, sondern ein globales Phänomen in vielfältigen Formen sind.
Mehr zum Thema findest du in meinem Artikel Egalitäre Gesellschaften – ein Zusammenleben ohne Herrschaft.
1.1 Reflexion: Herrschaftslosigkeit, Rotation und das Gemeinsame
Die Frühformen demokratischer Praxis laden dazu ein, unsere heutigen „Herrschaftsdemokratien“ kritisch zu hinterfragen. Wenn politische Macht fast immer über Parteien, Parlamente und feste Ämter organisiert wird, lohnt der Blick auf Gesellschaften, die ganz ohne dauerhafte Obrigkeit auskamen. Sie zeigen, dass auch Herrschaftslosigkeit eine Form der Ordnung hervorbringen kann – getragen von Vertrauen, gegenseitiger Kontrolle und Verantwortung.
Ein zweiter Gedanke betrifft die rotierende Besetzung von Ämtern und Konsensentscheidungen. Solche Verfahren sollten Machtkonzentration verhindern und garantieren, dass niemand dauerhaft über andere herrscht. Gerade heute, wo Politik oft als abgehoben oder elitär empfunden wird, könnten rotierende Zuständigkeiten oder geloste Bürgerräte Impulse geben, Beteiligung neu zu denken.
Schließlich wirft die Frage nach der Verwaltung gemeinsamer Ressourcen ein Schlaglicht auf ein Grundproblem unserer Zeit. Frühere Gemeinschaften entwickelten Regeln, um Wasser, Wälder oder Weiden gemeinschaftlich zu nutzen, nicht als Privateigentum, sondern als gemeinschaftliches Gut, das allen gehörte. Heute dagegen befinden sich die meisten Ressourcen in Privatbesitz. Vielleicht liegt hier die eigentliche Herausforderung. Müssen wir unser Verständnis von Besitz und Eigentum neu denken, wenn wir globale Krisen wie Klimawandel, Wasserknappheit oder Artensterben bewältigen wollen?
Was können wir heute aus diesen frühen Experimenten lernen? Welche Ressourcen sollten deiner Meinung nach als Gemeingut organisiert werden?
2. Antike Demokratien
2.1 Athen
Die attische Demokratie im 5. und 4. Jahrhundert v. Chr. gilt als eines der prägendsten politischen Experimente der Antike. Im Zentrum stand die Volksversammlung (Ekklesia), in der alle vollberechtigten Bürger direkt über wichtige Entscheidungen abstimmen konnten. Der Rat der 500 (Boulé) stellte die Tagesordnung für die Volksversammlung zusammen, entwarf Gesetzesvorschläge und überwachte zugleich zentrale Bereiche des städtischen Lebens. Viele Ämter, auch der Boule, wurden nicht durch Wahlen, sondern durch Losverfahren besetzt - ein bewusstes Mittel, um zu verhindern, dass sich Macht konzentriert. Durch Rotation und kurze Amtszeiten sollte Macht geteilt und Korruption erschwert werden (Hansen, 1991; Ober, 2008).
Gleichzeitig war diese Demokratie sehr exklusiv: Politische Gleichheit galt nur für männliche Vollbürger. Frauen, Sklaven und Fremde (Metöken) waren von der Teilhabe ausgeschlossen – sie machten jedoch die Mehrheit der Bevölkerung aus. Doch selbst unter den Berechtigten bestimmten Bildung, Redekunst und verfügbare Zeit faktisch mit, wessen Stimme Gewicht hatte. Während wohlhabende Bürger sich intensiv der Politik widmen konnten, waren die Ärmeren oft durch ihre Arbeit verhindert. So stand das Ideal der „Herrschaft des Volkes“ in starkem Gegensatz zur Realität, in der ein relativ kleiner Teil der Menschen tatsächlich über das Gemeinwesen bestimmte.
Wenn du mehr über die attische Demokratie erfahren willst lies hier weiter: "Attische Demokratie - und was wir heute daraus lernen können"
2.2 Rom
Die römische Republik war keine Demokratie, sondern eine Mischverfassung. Die politische Ordnung bestand aus drei Säulen: dem Senat, in dem vor allem Angehörige der alten Adelsfamilien (Aristokratie) saßen, den Magistraten, die die Exekutive bildeten und wichtige Ämter wie Konsul oder Prätor ausübten, und den Volksversammlungen, in denen die Bürger bestimmte Entscheidungen treffen konnten (Polybius, 1979). Ein wichtiges Gegengewicht waren die Volkstribunen, die das Recht hatten, Beschlüsse des Senats zu blockieren und so die Interessen des Volkes zu schützen. Trotzdem blieb die politische Macht meist in den Händen weniger einflussreicher Patrizierfamilien.
Der bleibende Beitrag Roms liegt daher weniger in einer breiten Beteiligung der Bürger, sondern im Rechtsdenken und in institutionellen Prinzipien. Dazu gehörten die Vorstellung von Bürgerrechten, die Beschränkung politischer Ämter auf eine bestimmte Amtszeit und das Prinzip der Kollegialität, nach dem wichtige Ämter immer doppelt besetzt werden mussten. Hinzu kam die Idee, dass verschiedene Institutionen sich gegenseitig kontrollieren sollten, um Machtmissbrauch zu verhindern. Dieses Prinzip der Machtbalance gilt als ein wichtiger Ideengeber der modernen Gewaltenteilung (Polybios, 1979; Montesquieu, 1748/1989). Hier erkläre ich die Prinzipien der Gewaltenteilung, Minderheitenschutz und andere wichtige Prinzipien von Demokratien
2.3 Reflexion: Beteiligung und Ausschluss – Wo stehen wir heute?
Unsere heutigen Demokratien erinnern stärker an Rom als an Athen. Sie beruhen vor allem auf repräsentativen Institutionen, Gewaltenteilung und Regelungen zur Begrenzung von Macht. Diese Ordnung hat Stabilität geschaffen, aber sie führt auch dazu, dass viele Menschen Politik eher als Sache von Eliten wahrnehmen.
Gerade deshalb lohnt der Blick nach Athen. Die Losverfahren, mit denen Ämter rotierend besetzt wurden, zeigen ein einfaches Mittel, um Machtkonzentration zu verhindern und die Verantwortung breiter zu verteilen. Auch die direkte Beteiligung in der Volksversammlung wirft die Frage auf, wie wir heute mehr unmittelbare Mitsprache ermöglichen könnten, etwa durch Bürgerräte, Volksentscheide oder digitale Beteiligungsformate.
Wie siehst du das? Wie können wir die Stabilität römischer Institutionen mit dem Beteiligungsideal Athens in Einklang bringen?
3. Mittelalterliche und vormoderne Beteiligungsformen
Während die meisten politischen Systeme im Mittelalter stark hierarchisch organisiert und weit von demokratischer Teilhabe entfernt waren, entwickelten sich vereinzelt Formen begrenzter Mitbestimmung.
In Island entstand mit dem Althing schon im 10. Jahrhundert eine Art frühes Parlament, in dem freie Männer (also keine Leibeigenen oder Sklaven) Gesetze berieten und Streitfälle entschieden. Ähnlich erlaubten die Landsgemeinden in der Schweiz eine direkte Abstimmung durch die Bauern.
Daneben gab es aber auch stark eingeschränkte Ständische Versammlungen wie Reichstage, Cortes oder Parlements, bei denen nur Adelige, Geistliche und reiche Bürger vertreten waren. Mit der Magna Carta von 1215 wurde zudem die Macht des englischen Königs erstmals durch ein schriftliches Abkommen begrenzt.
Auch in Afrika oder Asien finden sich Hinweise auf lokale Formen kollektiver Selbstorganisation, doch ist die Quellenlage hier deutlich unsicherer und weniger erforscht als in Europa.
Diese Formen waren also sehr verschieden: Manche öffneten echte Beteiligung, andere blieben Eliten vorbehalten, doch sie lieferten wichtige Impulse für spätere parlamentarische Entwicklungen (Blockmans & Tilly, 1989).
3.1 Reflexion: Wer darf mitreden?
Die Beispiele des Mittelalters machen deutlich, dass politische Mitbestimmung oft an Zugehörigkeit gekoppelt war, sei es an Stand oder Reichtum. Wer nicht in die richtige Gruppe gehörte, blieb außen vor.
Auch heute ist die Frage aktuell: Wer kann sich tatsächlich politisch einbringen, und wer bleibt faktisch ausgeschlossen, z.B. durch soziale Ungleichheit, Bildungsbarrieren oder fehlende Zeit?
Vielleicht liegt die eigentliche Lehre aus dieser Epoche darin, sensibel zu bleiben für unsichtbare Grenzen der Teilhabe. Denn auch wenn heute formal alle wählen dürfen, heißt das noch nicht, dass alle im gleichen Maß Einfluss haben.
Was meinst du? Welche unsichtbaren Barrieren verhindern heute politische Teilhabe – Zeit, Bildung, oder ganz andere Faktoren?
4. Aufklärung und demokratische Theoriebildung
Das Zeitalter der Aufklärung brachte Philosophen und Vordenker hervor, die die Grundlagen moderner Demokratie formulierten. Sie suchten nach Wegen, wie Macht gerecht verteilt und Herrschaft begrenzt werden kann.
- John Locke (1689): Regierung braucht die Zustimmung der Regierten; das Volk hat ein Widerstandsrecht gegen Tyrannei.
- Montesquieu (1748): Gewaltenteilung als Mittel, um Macht zu kontrollieren.
- Jean-Jacques Rousseau (1762): Volkssouveränität und der „allgemeine Wille“ (volonté générale), zugleich mit der Gefahr, dass Mehrheiten Minderheiten unterdrücken.
- Immanuel Kant (1795): Rechtsstaatlichkeit, republikanische Prinzipien und die Idee, dass Politik öffentlich und transparent sein muss.
- Mary Wollstonecraft (1792): Forderte, dass die Prinzipien von Freiheit und Gleichheit auch für Frauen gelten.
Diese Ideen blieben nicht nur Theorie. Sie verbanden sich mit sozialen Bewegungen, die konkrete Rechte einforderten: Pressefreiheit, das Recht, Vereine und Parteien zu gründen, und schließlich das allgemeine Wahlrecht. Die Theorien wurden zu politischen Werkzeugen, allerdings oft auch gegen die ursprünglichen Intentionen ihrer Autoren verwendet (Israel, 2001).
4.1 Reflexion: Vernunft, Freiheit und Öffentlichkeit – damals und heute
Die Philosophen der Aufklärung setzten auf Vernunft als Grundlage politischer Ordnung. Freiheit bedeutete für sie nicht nur Schutz vor Willkür, sondern auch die Möglichkeit, sich öffentlich auszutauschen und gemeinsam Regeln zu bestimmen. Diese Vorstellung prägt bis heute das Ideal demokratischer Politik.
Doch die Bedingungen haben sich verändert. Unsere Öffentlichkeiten sind von sozialen Medien, Algorithmen und einer permanenten Informationsflut geprägt. Nicht immer ist klar, ob dabei die Vernunft, die Kant oder Rousseau im Blick hatten, heute noch den Ton angibt oder ob Emotionen, Schlagzeilen und Polarisierung überwiegen.
Gleichzeitig stellt sich die Frage, wie wir die Ideale von Freiheit und Vernunft unter heutigen Bedingungen neu sichern können. Freiheit verliert an Wert, wenn sie nicht von Bildung, kritischem Denken und Zugang zu Wissen begleitet wird. Die eigentliche Herausforderung besteht darin, eine Öffentlichkeit zu schaffen, in der Vernunftorientierung möglich bleibt – ohne neue Formen von Ausschluss hervorzubringen.
Wie denkst du darüber? Kann Vernunft in algorithmusgesteuerten Öffentlichkeiten noch funktionieren?
5. Revolutionen
5.1 USA
Mit der Unabhängigkeitserklärung von 1776 und der Verfassung von 1787 entstand in den Vereinigten Staaten eines der ersten modernen Demokratiesysteme. Die Verfassung entstand allerdings nicht zuletzt deshalb, um Handelseliten vor „zu viel“ Demokratie zu schützen, etwa vor Schuldenerlässen und Umverteilungsmaßnahmen der Einzelstaaten (Holton, 2007).
Es setzte auf repräsentative Demokratie, einen starken Föderalismus und das Prinzip der Checks and Balances, also die gegenseitige Kontrolle von Regierung, Parlament und Gerichten.
Doch die neue Ordnung war von Widersprüchen geprägt: Sklaverei blieb bestehen, Frauen hatten keine politischen Rechte und auch viele Besitzlose waren ausgeschlossen. Das amerikanische Beispiel zeigt damit die Spannung zwischen großen universalistischen Prinzipien („alle Menschen sind gleich geschaffen“) und den engen sozialen Grenzen ihrer Anwendung (Dahl, 1998).
5.2 Frankreich
Die Französische Revolution von 1789 brachte mit der „Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte“ universale Freiheits- und Gleichheitsrechte in die Weltpolitik. Ähnlich wie in den USA blieben aber große Teile ausgeschlossen, darunter Frauen, Besitzlose und Kolonisierte.
Dennoch wurde sie zum Vorbild für viele andere Bewegungen. Politisch jedoch blieb Frankreich instabil. Auf die erste Republik (1792–1799) folgten die Schreckensherrschaft unter den Jakobinern, das instabile Direktorium, schließlich Napoleons Konsulat und Kaiserreich und später mehrere Wiedereinführungen der Monarchie. Dennoch blieb Frankreich prägend, weil dort die Idee universaler Menschen- und Bürgerrechte fest in die politische Sprache und Kultur Europas Eingang fand (Hunt, 2007).
5.3 Haiti
Die Haitianische Revolution (1791–1804) war einzigartig in der Weltgeschichte: Zum ersten Mal erhoben sich versklavte Menschen erfolgreich gegen die Kolonialherrschaft und erkämpften ihre Freiheit. Die Sklaverei wurde abgeschafft und 1804 erklärte Haiti seine Unabhängigkeit von Frankreich. Die Verfassung von 1805 erklärte alle Bürger für frei und gleich – ein radikaler Bruch mit den rassistischen Hierarchien der damaligen Welt (Geggus, 2002; Dubois, 2004).
Doch der Erfolg hatte einen hohen Preis. Viele Staaten verweigerten Haiti lange Zeit die Anerkennung und schlossen es wirtschaftlich aus, weil sie selbst Sklavenhaltergesellschaften waren und Aufstände fürchteten. 1825 zwang Frankreich das Land zudem zu gewaltigen „Entschädigungszahlungen“ an ehemalige Sklavenhalter, was Haiti über ein Jahrhundert mit Schulden belastete.
Auch im Inneren blieb die junge Republik in Unruhe. Dessalines regierte zunächst autoritär als Kaiser, bevor er 1806 ermordet wurde. Danach zerfiel das Land in ein monarchisches Nordkönigreich und eine republikanische Südstaatenföderation, die jedoch ebenfalls von Eliten dominiert wurde (Dubois, 2012).
Gerade in dieser Spannung liegt die historische Bedeutung Haitis. Die Revolution brachte radikale Gleichheitsprinzipien hervor, die ihrer Zeit weit voraus waren, zugleich aber keine dauerhaft demokratische Ordnung. Trotzdem bleibt sie ein Meilenstein globaler Demokratiegeschichte. Sie zeigte, dass die Ideale von Freiheit und Gleichheit nicht nur europäische Ideen waren, sondern von den Unterdrückten der Welt eingefordert und verwirklicht werden konnten (Dubois, 2004; Dubois, 2012).
5.4 Andere Revolutionen
Im 19. Jahrhundert griffen die Ideen von Verfassung, Parlament und Volkssouveränität auf andere Weltregionen über. In Lateinamerika führten Unabhängigkeitsbewegungen zur Gründung neuer Staaten, die sich an republikanischen Verfassungen orientierten. Auch die Revolutionen von 1848 in vielen Teilen Europas forderten mehr Teilhabe, Pressefreiheit und parlamentarische Mitbestimmung. Viele dieser Experimente endeten zunächst instabil oder wurden wieder zurückgedrängt. Dennoch hinterließen sie dauerhafte Impulse. Sie verbreiteten die Idee universaler Rechte und den Anspruch, dass politische Herrschaft begründet und kontrolliert werden muss (Hobsbawm, 1996).
5.5 Reflexion: Revolution, Scheitern und langer Atem
Die Revolutionen des 19. Jahrhunderts erinnern daran, dass politische Aufbrüche nicht immer sofort erfolgreich sind. Viele Bewegungen scheiterten und doch blieben ihre Ideen lebendig. Pressefreiheit, Parlamentarismus und nationale Selbstbestimmung setzten sich meist nicht sofort durch, aber sie prägten die politischen Kämpfe der folgenden Jahrzehnte.
Vielleicht liegt darin eine zentrale Lehre: Demokratie entsteht selten geradlinig, sondern durch wiederholte Anläufe, Niederlagen und Neuaufbrüche. Auch heutige Forderungen nach mehr Teilhabe oder Gerechtigkeit mögen kurzfristig scheitern. Die Frage ist, ob ihre Ideen langfristig den politischen Horizont verschieben.
Was glaubst du? Welche heutigen Bewegungen scheinen gescheitert zu sein, aber könnten in Zukunft dennoch prägend für Demokratie und Gesellschaft werden?
5.6 Reflexion: Ausschluss, Erinnerungskultur und Machtinteressen
Die Haitianische Revolution zeigt, dass radikale Fortschritte in Freiheit und Gleichheit nicht danach beurteilt werden, wie gerecht sie sind, sondern danach, ob sie bestehende Machtverhältnisse bedrohen. Während in Europa die Prinzipien von 1789 gefeiert wurden, galt derselbe Anspruch in Haiti als gefährliche Provokation. Für die kolonialen Eliten war die Abschaffung der Sklaverei eine Bedrohung ihrer ökonomischen und politischen Ordnung. Darum wurde Haiti jahrzehntelang isoliert, ökonomisch erpresst und aus den großen Erzählungen verdrängt.
Auch heute entscheidet nicht nur der Wert von Ideen über ihre Anerkennung, sondern die Frage, ob sie den Interessen der Mächtigen entsprechen. Bewegungen oder Staaten, die bestehende Ordnungen herausfordern – sei es durch Forderungen nach wirtschaftlicher Unabhängigkeit, ökologischer Transformation oder sozialer Gleichheit – geraten schnell unter Druck.
Wie siehst du es? Können Gleichheitsimpulse anerkannt werden, wenn sie Machtordnungen bedrohen?
6. Übergang von Monarchien zu Verfassungsstaaten
Im 19. Jahrhundert banden sich viele Monarchien freiwillig an Verfassungen, nicht um Demokratie zu fördern, sondern um Revolutionen zu verhindern. Die Macht der Könige wurde nicht mehr als unumschränkt verstanden, sondern durch Verfassungen und Parlamente begrenzt. In Großbritannien führten die Reform Acts zu einer schrittweisen Erweiterung des Wahlrechts; in Preußen und später im Deutschen Kaiserreich entstanden Verfassungen, die Parlamente vorsahen, wenn auch mit begrenzten Rechten. Ähnliche Entwicklungen gab es in Italien, Spanien oder Skandinavien.
Repräsentative Ordnungen setzten sich in vielen Ländern durch, allerdings mit großen Unterschieden und instabilen Phasen. Doch von Demokratie im heutigen Sinn konnte noch keine Rede sein. Das Wahlrecht war oft an Eigentum, Geschlecht oder Bildung gebunden, und politische Macht blieb stark in den Händen einflussreicher Eliten (Manin, 1997).
Parallel dazu veränderte die Industrialisierung die Gesellschaft. Das Bürgertum gewann an wirtschaftlicher Macht und forderte politische Rechte, während die junge Arbeiterbewegung soziale Absicherung und bessere Arbeitsbedingungen forderte. Der Verfassungsstaat war somit nicht nur ein juristisches Projekt, sondern ein politischer Kompromiss: Er sollte die Macht des Monarchen begrenzen und gleichzeitig die neuen sozialen Kräfte in eine Ordnung einbinden, die Stabilität versprach (Tilly, 2007). Damit legitimierten die Verfassungen parlamentarische Mitbestimmung, sicherten aber zugleich das Privateigentum an Produktionsmitteln.
6.1 Reflexion: Demokratie oder Kompromiss für die Eliten?
Die Verfassungsstaaten des 19. Jahrhunderts waren ein Fortschritt. Sie banden die Macht der Monarchen und etablierten Parlamente sowie Rechtsstaatlichkeit. Doch zugleich blieben sie Kompromisse. Das Wahlrecht war stark eingeschränkt, und politische Macht lag weiterhin in den Händen von Eliten. Die Verfassungen begrenzten also nicht nur Herrschaft, sie sicherten auch bestehende Machtverhältnisse ab.
Diese Spannung ist bis heute aktuell. Auch in modernen Demokratien stellt sich die Frage, wer tatsächlich Einfluss hat. Sind es die Bürgerinnen und Bürger oder sind es Parteien, wirtschaftliche Eliten und finanzkräftige Interessen, die den Ton angeben? Auch heute gilt: Nicht jede Stimme hat im politischen Prozess das gleiche Gewicht. Unterschiede entstehen durch Parteienfinanzierung, Lobbyismus und ungleichen Zugang zu Medien und Öffentlichkeit.
Was denkst du? Wie können Demokratien verhindern, dass politische Institutionen zum Schutz von Eliten versteinern und sie stattdessen wirklich allen Bürgern gleiche Einflussmöglichkeiten eröffnen?
7. Demokratisierungsschübe nach 1918
Der Erste Weltkrieg erschütterte die alten Monarchien Europas und bereitete den Boden für neue republikanische Systeme. In Deutschland entstand die Weimarer Republik, in Österreich und vielen anderen Ländern wurden Königreiche durch Republiken ersetzt. Gleichzeitig wurde in zahlreichen Staaten das Wahlrecht stark ausgeweitet. Erstmals durften auch Frauen wählen, und in vielen Ländern fiel die Bindung des Wahlrechts an Eigentum und Bildung weg. Damit wurde die Idee der allgemeinen politischen Teilhabe zu einem zentralen Merkmal moderner Demokratien.
Während Bürgerinnen und Bürger in Europa mehr Rechte erhielten, blieben Millionen Menschen in den Kolonien weiterhin von denselben Rechten ausgeschlossen. Demokratien wie Großbritannien oder Frankreich bauten ihre Reiche sogar noch weiter aus. So existierten Demokratisierung im Inneren und Kolonialherrschaft nach außen gleichzeitig – ein Spannungsverhältnis, das die Glaubwürdigkeit demokratischer Ideale untergrub (Getachew, 2019).
Zugleich verschärften sich die sozialen Konflikte des Industriekapitalismus. Arbeiterbewegungen und Gewerkschaften hatten im Krieg große Opfer gebracht und forderten nun politische Mitsprache und soziale Absicherung. Zugleich stießen sie auf den Widerstand von Unternehmer- und Eliteninteressen. Wie Przeworski (2019) betont, ist die Spannung zwischen kapitalistischer Ökonomie und demokratischer Politik ein dauerhaftes Strukturproblem. In der Zwischenkriegszeit machte sich diese Spannung, verstärkt durch Kriegserfahrungen und soziale Erwartungen, besonders deutlich bemerkbar.
Hinzu kamen weitere enorme Belastungen im Inneren: wirtschaftliche Krisen, Inflation, Arbeitslosigkeit und politische Gewalt ließen die Stabilität brüchig werden. In vielen Ländern nutzten autoritäre Bewegungen diese Schwächen aus, am bekanntesten in Deutschland und Italien, wo Nationalsozialismus und Faschismus die Demokratie zerstörten (Mazower, 1998). Propaganda war bereits damals ein wichtiges Instrument, hier beschreibe Propaganda und Massenpsychologie in modernen Demokratien.
Die Zwischenkriegszeit brachte damit neue demokratische Experimente hervor, etwa breitere Parteienlandschaften, Referenden oder moderne Verfassungen. Andererseits wurde sie zur Vorgeschichte autoritärer Rückschläge, die zeigten, wie fragil Demokratien ohne gefestigte soziale und wirtschaftliche Grundlagen sein können (Przeworski, 2019; Mazower, 1998).
7.1 Reflexion: Demokratie – Durchbruch, aber auf wessen Kosten?
Die Demokratisierung nach 1918 brachte vielen Menschen neue Rechte und politische Teilhabe. Doch sie war zugleich selektiv, wie wir bei den Kolonien gesehen haben. Demokratie entstand also auch auf Kosten anderer.
Zugleich erwiesen sich die neuen Republiken als zerbrechlich. Wirtschaftskrisen, politische Gewalt und soziale Spaltungen machten sie anfällig für autoritäre Rückschläge. Stabilität war kein Selbstläufer, sondern hing von ökonomischen Grundlagen und gesellschaftlichem Zusammenhalt ab.
Was ist deine Einschätzung? Leben starke Demokratien auch heute noch von Ausbeutung in anderen Regionen?
8. Nach dem Zweiten Weltkrieg
Nach 1945 setzte eine neue Demokratiewelle ein. In Westeuropa, Japan und später auch in Südeuropa entstanden stabilere Demokratien, die sich deutlich von den fragilen Systemen der Zwischenkriegszeit unterschieden. Sie bauten auf Rechtsstaatlichkeit, Parteienwettbewerb und sozialen Sicherungssystemen auf. Ein wesentlicher Unterschied war der Ausbau des Sozialstaats, der breite Teile der Bevölkerung vor Armut schützen sollte. Damit entstand in vielen Ländern eine Form von „sozialer Demokratie“, die wirtschaftliche Modernisierung mit sozialer Absicherung verband.
Auch die internationale Einbindung spielte eine große Rolle. Organisationen wie die NATO oder die Europäische Gemeinschaft (später EU) vernetzten die Demokratien und schufen Sicherheits- und Wirtschaftsstrukturen, die sie stabilisierten.
Politikwissenschaftler wie John Ikenberry (2001) und John Ruggie (1982) sprechen in diesem Zusammenhang von „embedded liberalism“, einer politischen Ordnung, die freie Märkte mit sozialen Sicherungen kombinierte, um die Fehler der Zwischenkriegszeit zu vermeiden. Konkret bedeutete das: Renten, Arbeitslosenversicherung, Gesundheitsversorgung und Bildungssysteme wurden ausgebaut, sodass der Kapitalismus eingehegt und sozial abgefedert war. Gerade diese Verbindung machte viele Demokratien der Nachkriegszeit stabiler und sorgte für breite gesellschaftliche Akzeptanz. Der „embedded liberalism“ war zugleich ein Klassenkompromiss. Kapitaleigner akzeptierten höhere Steuern und Sozialleistungen, solange die Eigentumsordnung unangetastet blieb.
Parallel dazu begann die große Welle der Dekolonisierung. Koloniale Reiche brachen zusammen, und viele Staaten in Asien, Afrika und dem Nahen Osten erlangten ihre Unabhängigkeit. Ein besonders wichtiges Beispiel ist Indien, das 1947 unabhängig wurde und trotz enormer Herausforderungen, wie Armut, religiöse Konflikte und Gewalt, eine der größten Demokratien der Welt aufbaute. Andere Länder gingen sehr unterschiedliche Wege. Manche etablierten stabile Demokratien, andere gerieten in autoritäre Systeme, Bürgerkriege oder wirtschaftliche Krisen.
Diese Unterschiede hängen eng mit der kolonialen Vergangenheit zusammen. Acemoglu und Robinson (2012) zeigen, dass viele Kolonien sogenannte extraktive Institutionen übernahmen, d.h. politische und wirtschaftliche Strukturen, die Eliten bereicherten und breite Mitsprache verhinderten. Auch nach der Unabhängigkeit wirkten diese Strukturen fort und erschwerten die Entwicklung stabiler Demokratien.
8.1 Reflexion: Kapitalismus, Sozialstaat und die Stabilität der Demokratie
Die Stabilität der Nachkriegsdemokratien beruhte nicht allein auf neuen Institutionen, sondern auch auf einem Ausgleich zwischen Kapitalismus und sozialer Absicherung. Märkte durften wachsen, doch der Staat sorgte mit Renten, Arbeitslosenversicherung, Gesundheitsversorgung und Bildung dafür, dass Wohlstand breiter verteilt wurde. Dieses Modell des „eingebetteten Liberalismus“ war entscheidend, um die Fehler der Zwischenkriegszeit zu vermeiden und das Vertrauen in die Demokratie zu stärken.
Heute gerät dieses Gleichgewicht ins Wanken. Globalisierung, neoliberale Reformen und wachsende Ungleichheit haben in vielen Ländern den Sozialstaat geschwächt. Wo Menschen das Gefühl haben, dass Demokratie ihre Lebensbedingungen nicht schützt, wächst das Misstrauen und autoritäre Bewegungen gewinnen Zulauf.
Wie denkst du darüber? Kann Demokratie im 21. Jahrhundert ohne einen starken Sozialstaat stabil bleiben oder ist soziale Sicherheit die eigentliche Grundlage politischer Freiheit?
9. 1989 bis heute
Westliche Akteure exportierten nach 1989 ihre institutionellen Modelle nach Osteuropa (Zielonka, 2006). Zahlreiche Länder führten neue Verfassungen ein, schufen unabhängige Institutionen und reformierten ihre Rechtssysteme. Die EU-Erweiterungen im Osten Europas gaben vielen neuen Demokratien zusätzlichen Rückhalt. Die frühen 1990er Jahre galten deshalb als Phase großen Optimismus, Demokratie schien weltweit auf dem Vormarsch (Huntington, 1991).
Doch dieser Aufbruch war nicht von Dauer. Seit den 2000er Jahren und verstärkt seit den 2010er Jahren, zeigen internationale Datensätze wie die des V-Dem-Instituts und von Freedom House, dass die Qualität der Demokratie in vielen Regionen zurückgeht (V-Dem, 2025; Freedom House, 2024). Liberal-demokratische Rechte wie Pressefreiheit, Unabhängigkeit der Justiz oder der Schutz von Minderheiten werden eingeschränkt. Autoritäre oder „illiberale“ Regime, etwa in Ungarn, der Türkei oder Russland, haben sich etabliert. Auch in etablierten Demokratien ist die Politik zunehmend von Polarisierung, Desinformation und dem Vertrauensverlust in Parteien geprägt. Hier erfährst du mehr über psychologische Manipulationstechniken und mediale Strategien in modernen Demokratien.
Gleichzeitig gibt es auch Erfolgsgeschichten. Länder wie Schweden, Norwegen oder Dänemark haben gezeigt, dass stabile Demokratien möglich sind, wenn soziale Absicherung, Rechtsstaatlichkeit und politische Kultur zusammenspielen. Auch Kanada mit seinem Pluralismus oder Costa Rica, das seit Jahrzehnten ohne Militär auskommt und in Bildung investiert, gelten als Beispiele dafür, dass Demokratien nicht zwangsläufig erodieren müssen. Diese Fälle erinnern daran, dass Demokratie nicht nur Krisen kennt, sondern auch gelungene Entwicklungen, die Orientierung bieten können.
Die Digitalisierung verstärkt die aktuellen Spannungen. Einerseits eröffnen soziale Medien und digitale Plattformen neue Räume für Beteiligung und Protest. Andererseits erleichtern sie die Verbreitung von Desinformation, Polarisierung und Manipulation.
Parallel dazu gibt es Experimente mit neuen Formen der Mitbestimmung, etwa Bürgerräte, die deliberative Verfahren (gemeinsame informierte Beratung) nutzen und in Ländern wie Irland konkrete politische Entscheidungen vorbereitet haben (Fishkin, 2018). Auch partizipative Haushalte (Bürgerbeteiligung zur Frage der Verwendung finanzieller Mittel), die zuerst in Porto Alegre (Brasilien) eingeführt und später weltweit übernommen wurden, oder digitale Petitionen wie in Estland, zeigen, dass Demokratie praktisch weitergedacht werden kann (Landemore, 2020). Doch bislang spielen diese Innovationen nur eine ergänzende Rolle neben den etablierten Institutionen.
Eine zentrale Spannung heute betrifft das Verhältnis von Neoliberalismus und Demokratie. Seit den 1980er Jahren wurden viele Märkte dereguliert, Sozialstaaten abgebaut und Politik an Sachzwänge ökonomischer Logik gebunden (Streeck, 2014; Brown, 2015). Dadurch fühlen sich viele Menschen politisch ohnmächtig, weil wesentliche Entscheidungen nicht mehr im Parlament, sondern in Finanzmärkten, internationalen Organisationen oder Konzernzentralen fallen. Die Herausforderung der Gegenwart lautet daher: Wie lässt sich Demokratie in einer globalisierten Welt behaupten, die von digitalen Plattformen, Klimakrise und wirtschaftlicher Ungleichheit geprägt ist?
Hier erfährst du wie auch unser Bankensystem zur Ungleichheit beiträgt
9.1 Reflexion: Demokratie unter Marktzwang?
Seit den 1980er Jahren haben Deregulierung, Globalisierung und der Rückbau sozialstaatlicher Sicherungen die Spielräume der Demokratie verändert. Parlamente können zwar Gesetze beschließen, doch viele zentrale Entscheidungen – über Finanzmärkte, Handelsabkommen oder Konzernmacht – entziehen sich der direkten Kontrolle der Bürger. Demokratie wird so in den Augen vieler zu einer Fassade ohne echte Gestaltungsmacht.
Gleichzeitig zeigt die Geschichte, dass stabile Demokratien immer auf sozialen und ökonomischen Fundamenten ruhten. Wo Ungleichheit wächst und politische Entscheidungen als Sachzwänge erscheinen, steigt die Gefahr von Vertrauensverlust und autoritären Gegenbewegungen. Hier erkläre ich die Zusammenhänge zwischen Ungleichheit und der Gefährdung von Stabilität.
Was meinst du? Kann Demokratie ihre Glaubwürdigkeit zurückgewinnen, wenn sie zentrale Entscheidungen Märkten und globalen Zwängen überlässt oder braucht es neue Formen politischer Kontrolle über Wirtschaft und Kapital sowie eine Einbindung der Bevölkerung in politische Entscheidungen?
Schlussgedanke: Demokratie als unvollendetes Projekt
Die Geschichte der Demokratie ist kein geradliniger Aufstieg, sondern eine Abfolge von Experimenten, Brüchen und Widersprüchen. Immer wieder wurden Rechte ausgeweitet und zugleich neue Grenzen gezogen. Freiheit und Gleichheit galten nie für alle, sondern mussten in langen Kämpfen erstritten werden. Demokratische Institutionen entstanden in Auseinandersetzung mit Kapitalinteressen, Kolonialherrschaft und sozialen Ungleichheiten.
Gerade die jüngere Geschichte zeigt, dass Demokratie nicht selbstverständlich ist. Sie war stabil, solange sie auf sozialen Grundlagen und internationaler Einbettung ruhte. Doch heute wird sie durch neue Herausforderungen auf die Probe gestellt: digitale Plattformen, globale Märkte, wachsende Ungleichheit, Klimakrise.
Wenn die Demokratie eine Zukunft haben soll, braucht sie mehr als Institutionen. Sie braucht die Fähigkeit, sich ständig neu zu erfinden und die Bereitschaft, Ausschlüsse und Machtasymmetrien zu hinterfragen. Ihre größte Stärke liegt vielleicht darin, dass sie nie abgeschlossen ist.
Darum liegt es an uns, Demokratie nicht nur zu bewahren, sondern sie mutig weiterzudenken – als lebendige Praxis, die allen gehört.
Quellen
- Acemoglu, D., & Robinson, J. A. (2012). Why Nations Fail: The Origins of Power, Prosperity, and Poverty. Crown. PDF
- Blockmans, W., & Tilly, C. (Hrsg.). (1989). Cities and the Rise of States in Europe, A.D. 1000–1800. Boulder: Westview Press.
- Brown, W. (2015). Undoing the demos: Neoliberalism’s stealth revolution. New York, NY: Zone Books.
- Dahl, R. A. (1998). On Democracy. Yale University Press.
- Dubois, L. (2004). Avengers of the New World: The Story of the Haitian Revolution. Harvard University Press.
- Dubois, L. (2012). Haiti: The Aftershocks of History. New York: Metropolitan Books.
- Fishkin, J. S. (2018). Democracy When the People Are Thinking: Revitalizing Our Politics Through Public Deliberation. Oxford University Press.
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Re: "The Dawn of Everything"
AntwortenLöschenUnfortunately, that book lacks credibility and depth.
In fact "The Dawn of Everything" is a biased disingenuous account of human history (https://www.persuasion.community/p/a-flawed-history-of-humanity & https://offshootjournal.org/untenable-history/) that spreads fake hope (the authors of "The Dawn" claim human history has not "progressed" in stages, or linearly, and must not end in inequality and hierarchy as with our current system... so there's hope for us now that it could get different/better again). As a result of this fake hope porn it has been widely praised. It conveniently serves the profoundly sick industrialized world of fakes and criminals. The book's dishonest fake grandiose title shows already that this work is a FOR-PROFIT, instead a FOR-TRUTH, endeavour geared at the (ignorant gullible) masses.
Fact is human history since the dawn of agriculture has "progressed" in a linear stage (the "stuck" problem, see below), although not before that (https://www.focaalblog.com/2021/12/22/chris-knight-wrong-about-almost-everything ). This "progress" has been fundamentally destructive and is driven and dominated by “The 2 Married Pink Elephants In The Historical Room” (https://www.rolf-hefti.com/covid-19-coronavirus.html) which the fake hope-giving authors of "The Dawn" entirely ignore naturally (no one can write a legitimate human history without understanding and acknowledging the nature of humans). And these two married pink elephants are the reason why we've been "stuck" in a destructive hierarchy and unequal 2-class system , and will be far into the foreseeable future (the "stuck" question --- "the real question should be ‘how did we get stuck?’ How did we end up in one single mode?" or "how we came to be trapped in such tight conceptual shackles" --- [cited from their book] is the major question in "The Dawn" its authors never really answer, predictably).
Worse than that, the Dawn authors actually promote, push, propagandize, and rationalize in that book the unjust immoral exploitive criminal 2-class system that's been predominant for millennia [https://nevermoremedia.substack.com/p/was-david-graeber-offered-a-deal]!
One of the "expert" authors, Graeber, has no real idea on what world we've been living in and about the nature of humans revealed by his last brief article on Covid where his ignorance shines bright already at the title of his article, “After the Pandemic, We Can’t Go Back to Sleep.” Apparently he doesn't know that most people WANT to be asleep, and that they've been wanting that for thousands of years (and that's not the only ignorant notion in that title) --- see https://www.rolf-hefti.com/covid-19-coronavirus.html. Yet he (and his partner) is the sort of person who thinks he can teach you something authentically truthful about human history and whom you should be trusting along those terms. Ridiculous!
"The Dawn" is just another fantasy, or ideology, cloaked in a hue of cherry-picked "science," served lucratively to the gullible ignorant public who craves myths and fairy tales.
“Far too many worry about possibilities more than understanding reality.” --- E.J. Doyle, American songwriter & social critic, 2021
"The evil, fake book of anthropology, “The Dawn of Everything,” ... just so happened to be the most marketed anthropology book ever. Hmmmmm." --- Unknown