Einfach Ich – Eine persönliche Geschichte über Scham, Anderssein und Neubeginn – Teil 1
Einfach Ich – Eine persönliche Geschichte über Scham, Anderssein und Neubeginn – Teil 1
Einleitung: Zeit, um NeuDenken neu zu denken
Bisher habe ich hier über sehr unterschiedliche Themen
geschrieben: von buddhistischer Lehre über Demokratie bis hin zu
Selbstreflexion mit KI. Also einfach Themen, die mich gerade
interessierten und mit denen ich mich beschäftige.
Mein Stil
dabei: sachlich, distanziert, fast wie aus einem Lehrbuch. Als würde
ich über etwas schreiben, das nichts mit mir zu tun hat.
Aber das stimmt nicht. Alles, was ich hier teile, hat mit mir zu tun. Mit meiner Geschichte. Mit dem, was ich durchgemacht habe. Und mit dem Weg, den ich versuche zu gehen – mit meinen Werten, meinen Überzeugungen und dem, was mir im Leben wichtig ist.
Deshalb möchte ich von jetzt an mit mehr Persönlichkeit, mehr Haltung, mehr Meinung schreiben – und, wenn es passt, mit Beispielen aus meinem Leben. Die Texte sollen dabei nichts an Tiefe verlieren, im Gegenteil: Wenn ich meine eigene Perspektive einbringe, wird noch mehr Tiefe möglich.
Um diesen Wechsel zu vollziehen, möchte ich mich erst einmal tiefer vorstellen. Viel tiefer. Ich möchte meine Geschichte erzählen – geprägt von Höhen und Tiefen. Wobei Zweiteres wohl überwiegt.
Warum ich mich dazu entschlossen habe, hat mehrere Gründe:
Ihr, also meine Leser, lernt mich besser kennen: warum mich Themen interessieren, was mich bewegt und welcher Mensch hinter dem Blog steht. Im besten Fall entsteht dadurch eine engere Bindung in der Community.
Es gibt eine Geschichte, die mich sehr beeindruckt: Ein buddhistischer Lehrer sollte einen Vortrag halten. Auf der Bühne hatte er einen Blackout. Also begann er, einfach seine Gefühle zu benennen: „Da ist Angst … Jetzt kommt überwältigende Scham … Es fühlt sich an wie Sterben … Der Geist wird ruhiger … Entspannung …“ Es braucht viel Mut, sein Innenleben so vor Publikum zu teilen. Auch ich möchte mich mit meiner Geschichte verletzlich zeigen. Vieles ist mit großer Scham verbunden, dazu die Angst vor negativen Reaktionen. Verletzlichkeit ist aber etwas, das uns alle eint. Menschsein heißt, verletzlich zu sein. Ich glaube, Chögyam Trungpa schrieb sinngemäß, dass wir offener für Mitgefühl werden, für uns selbst und für andere, wenn wir zulassen, dass uns unsere Verletzungen weicher machen, statt uns zu verhärten.
Ich möchte Menschen helfen, die sich vielleicht in Teilen meiner Lebensgeschichte wiederfinden. Manchmal tut es einfach gut zu hören oder zu lesen, dass man nicht der Einzige ist, sondern dass auch andere Ähnliches erlebt haben.
Nicht zuletzt schreibe ich es auch für mich. Es sind viele Dinge passiert, die ich mehr oder weniger in die Verdrängung verbannt habe. Ich glaube, es tut mir gut, alles noch einmal mit einem neuen Blick zu betrachten.
Triggerwarnung/Hinweis: Dieser und die folgenden Texte behandeln Themen wie Mobbing, Gewalt, Alkohol- und Drogenmissbrauch und psychisches Leiden. Wenn dich das belastet, lies bitte nur, wenn du dich stabil genug fühlst.
Meine Geschichte
Frühe Kindheit und Jugend
Und dann kam der Schlag auf meinen Hinterkopf. Nicht, dass es etwas Besonderes gewesen wäre – eigentlich ein normaler Tag. Doch heute tat es besonders weh. Nicht am Kopf, sondern im Herzen. So stellt man sich einen Geburtstag nicht vor.
Zu seiner Verteidigung: Er wusste nichts von meinem Geburtstag. Er tat nur, was er jeden Tag tat – er schlug mich. Ich tat, was ich jeden Tag tat – ich nahm es hin, sagte nichts. Vielleicht grinste ich sogar. Grinste, um die Scham zu verstecken. Um nicht zu zeigen, wie es mich zerreißt.
Ausgerechnet ihn sehe ich seit Kurzem öfter im Zug, wenn ich zur Arbeit fahre. Ich habe keine Ahnung, ob er mich auch erkennt und, wenn ja, was er wohl fühlt. Scham? Angst? Reue? Oder fühlt er sich immer noch überlegen und schaut auf mich herab? An manchen Tagen möchte ich ihm sagen, dass es okay ist, dass ich ihm vergebe. Und dann gibt es wieder die Tage, an denen sich Fantasien in meinem Kopf abspielen, in denen ich ihm Schlimmes antue.
Diese Szene aus der siebten Klasse ist mir besonders deutlich im Gedächtnis geblieben. Gemobbt, geschlagen und gedemütigt wurde ich jedoch über Jahre, von mehreren Personen. Jeder Tag in der Schule wurde zur Hölle. Meinen Eltern habe ich es nie erzählt – zu Hause spielte ich den Glücklichen, grinste, während ich innerlich zerbrach. Ein Muster, das sich durch mein ganzes Leben zieht: einfach grinsen. Bloß nicht zeigen, was ich wirklich fühle.
Um das zu verstehen, muss ich früher beginnen. Ich bin ländlich, auf einem kleinen Bauernhof nahe eines Dorfes, aufgewachsen. Viele frühe Erinnerungen sind glücklich: Spielen mit anderen Kindern, mit meiner Schwester, Ausflüge, Zelten mit der Familie. Später kamen noch mehr Geschwister dazu – zwei Brüder, acht und siebzehn Jahre jünger, und zwei Schwestern, rund dreizehn und fünfzehn Jahre jünger als ich. Als meine Eltern bereits getrennt waren noch eine Halbschwester, etwa 22 Jahre jünger. An den älteren Bruder kann ich mich noch gut erinnern, als er klein war. Ich spielte öfter mit ihm und später, als er vielleicht fünf oder sechs war, konnte er mir stundenlang über Computerspiele erzählen. An die ersten Jahre der Schwestern kann ich mich dagegen leider kaum erinnern. Auch an meinen jüngeren Bruder bleiben wenig Erinnerungen.
Neben den glücklichen Zeiten gab es aber auch die anderen, nicht so schönen Momente. Meine Eltern stritten sehr viel – das hat mich stark belastet. So sehr, dass ich mir manchmal wünschte, sie würden sich einfach trennen. Eine Geschichte, die mir im Gedächtnis blieb: Meine Mutter sagte mir, sie wolle sich von meinem Vater trennen. Sie fragte meine Schwester und mich, bei wem wir dann leben wollen. Meine Schwester sagte: bei ihr. Ich wollte, dass es gerecht ist. „Dann will ich zu Papa, damit es fair ist“, sagte ich. Meine Mutter erwiderte, dann wisse sie ja, wen ich lieber mag. Ich fühlte mich so hilflos. Nur ein Kind, das gerecht sein wollte – und doch alles falsch machte.
Eine weitere Schwierigkeit war, dass zu Hause oft viel Alkohol floss. Die Feiern meiner Eltern mit Onkel und Tante gehörten dazu. Meine zwei Jahre jüngere Schwester und ich sollten dann meist mit den Cousins im Zimmer nebenan spielen. Wie ich mich damals gefühlt habe, weiß ich nicht mehr. Aber es hat Spuren hinterlassen – schließlich haben Eltern eine Vorbildfunktion. So wundert es auch nicht, dass wir vier – meine Schwester, ich, Cousin und Cousine – später alle selbst ein Alkoholproblem entwickelten. Heute bin ich selbst Vater und versuche, ein gutes Vorbild für meine Kinder zu sein. Das gelingt mir natürlich nicht immer. Deshalb will ich meinen Eltern auch keine Vorwürfe machen.
Nicht, dass meine Eltern schlechte Eltern gewesen wären. Meine Mutter hat mir abends im Bett vorgelesen, sie hat Hausaufgaben mit mir gemacht und jeden Morgen Frühstück vorbereitet. Wir haben oft etwas zusammen unternommen – Freizeitpark, Schwimmbad, solche Sachen. Wir sind sogar ein paar Mal in den Urlaub gefahren. Es waren viele schöne Momente.
Zuneigung konnte mein Vater allerdings nie wirklich zeigen. Ich kann mich nicht erinnern, dass er mich je umarmt hat. Das habe ich leider übernommen: Umarmungen fallen mir wahnsinnig schwer, und gut fühlt es sich nur mit meiner Frau und Tochter an. Es belastet mich, dass ich es nicht hinbekomme, meine Mutter, meinen Vater oder meine Stieftochter zu umarmen. Ich wünsche es mir, aber es ist wie eine Blockade.
Dass ich anders bin als andere, habe ich früh gemerkt. Mir fiel es sehr schwer, vor anderen zu sprechen, und ich mied es deshalb. Meine Kindergartenlehrerin sagte, dass sie bei der Abschlussfeier zum ersten Mal meine Stimme hörte. Doch es war nicht nur das Reden. Da war immer dieses Gefühl des Andersseins, dieses Nicht-Dazugehören. Und natürlich die Gedanken: Warum gerade ich? Alle sind normal, nur mit mir stimmt etwas nicht.
Als ich kleiner war, hatte ich mehrere Freunde. Wie genau und ob ich mit ihnen viel geredet habe, weiß ich nicht mehr. Ich vermute, dass mir der Kontakt durchs Spielen leichter fiel. Nach einiger Zeit in der Schule hatte ich drei sehr gute Freunde, mit denen ich unterwegs war; die anderen mied ich meist.
Der große Bruch kam, als ich nach der sechsten Klasse in die Realschule wechselte. Ich war der Einzige aus meiner Klasse und in der neuen kannte ich niemanden. Das war extrem hart. Ich hatte eine riesige Angst zu reden. Aber auch davor, als Einziger nichts zu sagen. Davor, allein zu sein. Ich fühlte mich wie gelähmt. Einerseits hoffte ich, dass mich jemand anspricht, andererseits machte mir genau das Angst.
Es kam dann auch dazu, dass mich jemand ansprach. Mit zwei Mitschülern hatte ich während der gesamten Realschulzeit losen Kontakt. Sie beteiligten sich nicht am Mobbing. Bei einem war ich sogar einmal zu Hause. Allerdings bekam ich wieder einmal kein Wort heraus. Er sagte, ich würde immer nur grinsen und nie etwas sagen. Stimmt – grinsen kann ich.
Auch der Kontakt zu meinen früheren Freunden aus der Grundschule brach in dieser Zeit ab. Wir sahen uns nicht mehr in der Schule. Am Anfang trafen wir uns noch manchmal, aber auch das hörte schnell auf. Ich bin kein Mensch, der anderen hinterherläuft, eher jemand, der sich zurückzieht. Dieses Muster hängt auch mit meiner Angst vor Ablehnung zusammen. Bevor ich mich bei jemandem melde und möglicherweise abgewiesen werde, melde ich mich lieber gar nicht.
Das Mobbing ging sehr lange. Ich schätze, drei Jahre lang war es wirklich schlimm. Deutlich weniger wurde es erst, als ich anfing, mich zu wehren und zurückschlug. Schön wurde die restliche Schulzeit dadurch nicht. Ich blieb Außenseiter. Manchmal verbrachte ich die Pausen mit den erwähnten losen Kontakten, die inzwischen alle nicht mehr in meine Klasse gingen. Viele Pausen verbrachte ich aber auch einfach auf der Toilette. Es war mir zu peinlich, allein herumzusitzen.
Trotz dieser tiefen sozialen Isolation gab es einen unerwarteten Hoffnungsschimmer: irgendwann in der neunten oder zehnten Klasse hatte ich meine erste „Freundin“. Es war eine Freundin meiner Schwester. Wir schrieben öfter in ICQ und irgendwann schrieb sie mir, dass sie sich in mich verliebt habe. Also „beschlossen“ wir, eine Beziehung einzugehen. Ich war zuerst überglücklich. Doch ich schaffte es nicht, über meine Angst zu springen. Um ehrlich zu sein: Ich brachte es nicht fertig, ein einziges Wort mit ihr zu reden. Es kam einfach nichts heraus. Wie man sich denken kann, war es keine lange Beziehung.
Fortsetzung folgt
Jetzt
Jetzt ist also der Moment gekommen, in dem ich es veröffentlichen
werde. Angst kommt auf. Ich spüre, wie meine Beine sich bewegen
wollen, als wollten sie davonlaufen. Kribbeln im Bauch. Soll ich es
lieber lassen? Doch nicht veröffentlichen? Was werden die Leute über
mich denken? Dass ich schwach bin? Dass ich ein Opfer bin?
Und
dann ist sie wieder da – die Scham. Mein Kopf wird warm. Was, wenn
Arbeitskollegen das lesen? Oder meine Mutter? Vielleicht macht es sie
traurig.
Während sich meine Gefühlswelt in ein Gewirr aus
Schuld, Trauer, Angst und Scham verwandelt, drücke ich einfach auf
Veröffentlichen.
Der Ausblick
Das war der Anfang meiner Geschichte. Doch es gibt noch viel zu erzählen. In den Jahren danach kamen meine erste Ausbildung – aber auch Alkohol, Drogen, Selbstzerstörung. Ein Todesfall in der Familie. Schließlich der totale Absturz. Glücklicherweise endet die Geschichte dort noch nicht, sonst würde ich heute nicht hier sitzen.
Wie hat dir der Artikel gefallen? Hast du Ähnliches erlebt? Wie gehst du mit Angst und Scham um? Schreib es gern in die Kommentare.
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